Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Niemand da. Judy spürte, wie ihr die Knie weich wurden. Was sollte sie denn jetzt tun?
Über den nächsten Besuch bei ihrer Tochter hatte Rike tagelang nachgesonnen. Sie hatte Gesprächsszenarien ent- und verworfen. Einmal hatte sie sogar schon im Auto gesessen, bereit für den spontanen Aufbruch. Nur eines war ihr inzwischen klar: Sie mussten miteinander reden.
Seit dem Streit mit Claire hatte sie weder von Lea noch von Claire etwas gehört. Sie war sogar am Weingut vorbeigefahren, hatte ihren alten Opel Kadett dann aber oben auf der Hügelkuppe geparkt und war dort geblieben, um etwa zehn Minuten später unverrichteter Dinge wieder abzufahren.
Der Gedanke, Claire oder Lea zu begegnen, war ihr plötzlich unheimlich gewesen.
Eine Weile war sie kreuz und quer gefahren, so, wie sie das früher häufiger, jetzt aber schon lange nicht mehr getan hatte. Irgendwann hatte sie einen Feldweg angesteuert, den Motor ausgeschaltet und die Stirn gegen das Lenkrad gedrückt.
Was ist nur mit uns geschehen? Sie war doch immer stolz auf Leas und ihre Beziehung gewesen. Hatte Lea das anders erlebt? Hatten sie sich auseinandergelebt?
Tränen traten in Rikes Augen, während sie an ihr kleines Mädchen mit den dunklen Zöpfen und den dunklen Augen dachte, an ein winziges Menschlein in einem Schlafanzug mit aufgedruckten Hasen. Als wäre es erst gestern geschehen, erinnerte sie sich daran, Lea in die Arme genommen und gekuschelt zu haben. Sie erinnerte sich an ihren Babyduft, ihre weiche Babyhaut, ihre Babyhaare.
Seit gewiss einer Minute schwebte Rikes Finger nun schon über der Klingel. Erst jetzt schenkte sie dem zusammengekauerten Mädchen, das da vor der Haustür saß, einen zweiten Blick.
»Wartest du auf jemanden?«
Die Kleine, die Rike auf etwa zwölf bis dreizehn Jahre schätzte, schaute sie fragend an und hielt ihr dann einen vollkommen zerknitterten, fleckigen Zettel hin.
»Lea Kadisch«, las Rike halblaut, dann die Adresse.
Sie schaute das Mädchen an. »Ja, du bist richtig hier. Du willst zu Lea Kadisch?«
Das Mädchen nickte schüchtern. Rike runzelte die Stirn.
Aber wer war das, um Himmels willen? Sie war sehr jung, um Leas Freundin zu sein … oder gab Lea neuerdings Nachhilfeunterricht? Gekonnt hätte sie es, sie hatte ihr Studium mit hervorragenden Noten abgeschlossen.
Als habe sie ihre Gedanken gelesen, stand das Mädchen nun auf, streifte sich die Hände an den Seiten ihrer Jeans ab und streckte Rike dann die Rechte zur Begrüßung hin.
»Hi, I am Judy Hunter. From Perth.«
»Australien«, entfuhr es Rike.
»Yes, Madam.«
»Ich fürchte, Lea’s not at home but …« Rike suchte nach Worten. Es war gefühlte Jahrhunderte her, dass sie Englisch gesprochen hatte. »But I am her mum, I’ll help you, Judy.«
Judy hätte vor Erleichterung heulen können, doch sie riss sich zusammen. Wenigstens sprach die Frau, die sie vor dem Haus angetroffen hatte und die Lea offenbar kannte, Englisch. Aber vielleicht war es auch dumm gewesen, ihr einfach zu trauen? Sie hatte sich als Leas Mutter vorgestellt, aber vielleicht war es ja doch eine Verrückte, die Judy jetzt verschleppen, irgendwo einsperren und Lösegeld für sie verlangen würde?
Judy unterdrückte einen Seufzer, während ihr Blick nicht zum ersten Mal zum Türgriff wanderte. Wenn die Frau langsamer fuhr oder sogar hielt – an einer Ampel beispielsweise –, dann konnte sie die Tür aufreißen und weglaufen.
Und was dann? Dann war sie alleine in Deutschland. Vielleicht blieb ihr gar nichts anderes übrig, als ihr doch zu trauen?
Judy musterte die Frau von der Seite. Sie hatte einen Pagenkopf und trug eine weite indische Bluse zu Jeans und flachen Schuhen. Als sie jetzt fragend Judys Blick erwiderte, kauerte die sich tiefer in ihren Sitz.
»Geht es dir gut?«, fragte die Frau auf Englisch. Die Unsicherheit, die anfänglich in ihrer Stimme zu hören gewesen war, hatte sich etwas gelegt.
Judy nickte, während sie ihren Rucksack auf dem Schoß fest umklammerte. Sie hatten die Stadt verlassen und fuhren durch eine grüne, eigentlich sehr nett anzusehende Landschaft. Als sie etwas später in einen ungepflasterten Weg einbogen, wurde Judy wieder unruhig.
Vielleicht war sie doch entführt worden? Wo sollte dieser Weg denn hinführen? Eine Straße war das jedenfalls nicht.
Sie setzte sich wieder etwas aufrechter hin und starrte nach draußen, um ja nichts von ihrer Umgebung zu verpassen.
Aber natürlich, suchte sie sich zu beruhigen, hätte sie mich in
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