Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Gesichtsausdruck nicht ausmachen. Langsam kam er auf sie zu. Sie dachte daran, wie lange sie einander nicht gesehen hatten. Noch nie waren sie so lange voneinander getrennt gewesen, auch wenn die Jahre nach Anns Tod gewesen waren, als lebten sie auf verschiedenen Planeten. Jetzt konnte sie schon seine Schritte über den Boden knirschen hören. Die Worte sprudelten aus ihr heraus, bevor er sie ganz erreicht hatte.
»Es tut mir leid, John, es tut mir leid, dass Ann sterben musste. Es tut mir so leid. Ich wollte das nicht. Ich wollte das wirklich nicht. Vielleicht hätte ich ihm sagen sollen, dass sie nicht fliegen …«
John blieb vor ihr stehen und starrte sie an.
»Aber du wusstest ja nicht, dass … Mum, was soll das, du wusstest ja nicht, dass das passieren würde …«
»Ich wollte das nicht«, beharrte Claire noch einmal, »ich …«
»Was wolltest du nicht?« Johns Gesicht sah nun verwirrt aus.
»Ich wollte nicht, dass sie stirbt.«
Die Verwirrung in Johns Gesicht verwandelte sich in Entgeisterung. »Aber natürlich wolltest du das nicht. Das weiß ich doch.«
Claires Finger klammerten sich fester um das Tor, das alte Holz splitterte unter ihren Fingern.
»Das sagst du mir jetzt? Wann hast du deine Meinung geändert?«
Ihre Stimme zitterte. John sah erneut verwirrt aus.
»Wie meinst du das? Ich habe meine Meinung nicht geändert. Das habe ich schon immer gedacht, Mum. Du hattest doch nichts mit dem Unfall zu tun. Das habe ich auch nie gesagt.«
»Nein, du hast tatsächlich nichts dergleichen gesagt.« Claire spürte, wie ihre Knie weich wurden. »Aber ich dachte immer, du machst mir Vorwürfe, John.«
»Nein.« John lächelte müde. »Ich war nur wütend. Ich war so verdammt wütend auf alle und alles. Ich habe Ann sehr geliebt. Auf ihre Weise war sie mir wichtiger als Judy, verstehst du? Weil wir ein Paar waren. Wir waren wie eine Münze, ich war die eine Seite, Ann die andere. Ich dachte, ich müsste nie mehr von ihr getrennt leben, nach dem ich sie doch glücklich geheiratet hatte. Ich weiß, dass ich in den letzten Jahren nicht immer gerecht zu Judy oder dir war. Aber ich habe erst gemerkt, wie sehr ich Judy wirklich liebe, als sie auf einmal fort war.«
Claire bemerkte, wie sie unvermittelt zu zittern begann. Ihre Knie waren immer noch weich. Nur mit Mühe hielt sie sich aufrecht.
»Warum hast du nie etwas gesagt? Die ganzen letzten Jahre habe ich mir Vorwürfe gemacht, ich …«
Sie biss sich auf die Lippen. Sie würde nicht in Tränen ausbrechen, nicht jetzt und nicht vor John. Ganz sanft legte der jetzt die Arme um sie. »Es tut mir leid, Mum, das wusste ich nicht. Ich wusste ja nicht, wie sehr du leidest. Ich habe nur mich gesehen. Es tut mir leid. Wir sind nicht immer gerecht. Man kann nicht immer gerecht sein, aber wir können aus unseren Fehlern lernen, nicht wahr?«
Sie nickte. Er spürte ihren Körper und fühlte Erstaunen darüber, wie zart sie sich anfühlte. Seine Mutter war immer so stark gewesen, so kräftig. Wie hatte sie so unbemerkt alt werden können? Er dachte daran, wie viele Fragen er ihr nicht gestellt hatte, doch er sagte nichts.
John Hunter war schmal und groß gewachsen. Sein schwarzes Haar war sehr dicht und stand etwas wirr um seinen Kopf. Er war eine Weile mit Claire in den Weinbergen unterwegs gewesen, offenbar, um zu fachsimpeln. Draußen hatte er ein paar schmutzige Gummistiefel abgestellt. Nun stand er am Waschbecken in der Küche, sichtlich unschlüssig, ob er sich dort die Hände waschen sollte.
»Nur zu«, sagte Lea, die hinter ihm im Flur aufgetaucht war. »Es gibt bisher nur diesen Anschluss.«
Sie hatte eine Weile an dem Satz herumgebastelt, bekam ihn aber nun recht flüssig über die Lippen. Wenn sie ihn überrascht hatte, ließ er sich das in jedem Fall nicht anmerken. Heute wirkte er entspannter als am Vortag, als er sie so unvermittelt in der Küche zurückgelassen hatte.
»Danke für den Hinweis, Nichte! Ein schönes Haus hast du da.«
»Es ist Claires Haus.«
»Aha.« Er nickte. »Verstehe«, fügte er dann hinzu, und es klang, als sei er keineswegs sicher, dass er verstanden hatte.
»Die Pension, ist sie gut?«, suchte Lea sich die nächsten Worte zusammen.
»Ich sollte Deutsch lernen«, sagte John und schaute sie zerknirscht an.
Lea lachte. »Das hat Zeit.«
Er wandte sich jetzt dem Spülbecken zu und wusch sich sorgfältig die Hände. Dann fuhr er sich mit allen zehn Fingern durch das Haar.
»Wo ist Judy?«, fragte er nun. »Ich habe
Weitere Kostenlose Bücher