Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
sah seinen Neffen etwas länger an. »Damals, als es geschah, nannten mich die meisten noch Wolfi; Bernd auch, ich war schließlich der Jüngste in der Familie.«
Nur wenig später hatte Wolf Tom und Lea in die Ereignisse jenes Julitages im Jahr 1951 eingeweiht, als er und Bernd das Weingut zum ersten Mal erkundet hatten.
»Ich glaube«, sagte er nun, »ich hatte noch nie so viel Angst wie damals, als Bernd diesen Totenschädel aus dem Boden zog.«
Lea legte vorsichtig den Kaffeelöffel auf die Untertasse.
»Und der alte Mann? Was ist mit ihm passiert?«
Herr Wieland zuckte die Achseln. »Er hat Hilfe geholt. Einige Wochen später ist er gestorben. Nein, nein, keine Spekulationen, es war ein natürlicher Tod. Für uns jedenfalls setzte es am Tag der Mutprobe abwechselnd einen Satz heiße Ohren und dann Küsse. Unsere Eltern glaubten einfach, der Alte sei gefährlich. Sie waren froh, dass er uns nichts getan hat.« Er schwieg einen Moment lang. »Später habe ich manchmal an diesen Tag gedacht, und ich habe versucht, etwas mehr über ihn herauszufinden. Dabei war mir Ilse behilflich. Ich hatte schon fast vergessen, was sie mir damals erzählte, aber sie sagte, dass, als sie selbst jung gewesen war, für einige Wochen eine junge Frau und ein Kind bei dem Alten wohnten. Ich glaube, das waren Claire und …«
»Claire?«, entfuhr es Lea. »Claire und meine Mutter?«
Als Tom Lea am Abend zurück zum Weingut und ihrem Wagen fuhr, schwiegen sie beide während der Fahrt. Lea schreckte erst aus ihren Gedanken hoch, als sie in den Hof fuhren.
Alles wirkte still, offenbar waren die anderen schon auf gebrochen. Ihr Auto stand noch da, also mussten sie ein Taxi genommen haben. Lea fragte sich kurz, wann Rike sich wieder einmal überwinden würde, sie hier alle zu besuchen.
Sie wollte noch einmal kurz reingehen, um nach dem Rechten zu sehen. Vor der Tür angekommen, blieb sie stehen und drehte sich zu Tom hin.
Ich bin kleiner als er, dachte sie, als sie nun so vor ihm stand, ihre Lippen würden genau auf seinem Kinn landen, wenn sie sich jetzt einfach vorbeugte und ihn küsste.
»Kommst du morgen?«, fragte sie leise.
»Natürlich.« Er schien plötzlich unsicher. »Soll ich warten?«
»Nein.«
Lea schaute ihm hinterher, bis sein Käfer wieder aus der Einfahrt holperte, bevor sie die Tür aufschloss. Im Flur fingerte sie die Taschenlampe aus der Jackentasche, die sie in Anbetracht des immer noch mangelnden Stromanschlusses mit sich trug.
Da bemerkte sie, dass ein kaum wahrnehmbarer flackernder Lichtschein aus der Küche drang. Langsam ging sie darauf zu, spähte durch den Spalt und stieß die Tür dann auf.
»Claire!«
Erst jetzt bemerkte sie John, Judy und Rike. Was war das hier? Eine Familienzusammenführung? Claire lächelte sie an.
»Wo warst du so lange?«
»Bei Herrn Wieland. Wusstest du«, Lea musste ihre trockenen Lippen befeuchten, »wusstest du, dass er deinen Onkel Ludwig kannte?«
Claire hob kurz die Augenbrauen, sagte aber vorerst nichts.
»Er hat uns gesagt, dass sich alle im Dorf vor ihm gefürchtet haben.«
»Ludwig konnte keiner Fliege etwas zuleide tun.« Scharf wie ein Messer schnitt Claires Stimme in die Stille, dann holte sie tief Atem. »Dies hier ist meine Geschichte, und ein wenig auch die Ludwigs.«
Achter Teil
F riederike
1931
E rstes Kapitel
Bonnheim, 1931
Es war die erste Nacht in diesem fremden Haus, und Claire konnte nicht einschlafen, obwohl sie nach der Reise vollkommen erschöpft war. Sie hatte das Abendbrot gegessen, das Onkel Ludwig ihr bereitet hatte, hatte Friederike gefüttert und sie in den alten Wäschekorb gebettet, den Ludwig ihr gebracht hatte. Die ganze Zeit über hatte sie sich zu erinnern versucht. Sie hatte Ludwig schon einmal gesehen, gemeinsam mit ihrem Vater – und der hatte ihr gewiss deshalb diesen Ort als Zuflucht genannt –, doch sie wusste einfach nichts mehr davon.
Ludwig dagegen schon.
»Du bist groß geworden«, sagte er, nachdem sie einander etwas steif begrüßt hatten. Über ihr Auftauchen hatte er sich überhaupt nicht überrascht gezeigt, ob Vater ihn vorgewarnt hatte? Ob er geahnt hatte, was geschehen würde? Papa war immer sehr feinfühlig gewesen.
Nun, sie hatte sich jedenfalls bald entschuldigt und war zu Bett gegangen. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Unruhig wälzte sie sich von der einen zur anderen Seite. Irgendwann setzte sie sich wieder auf, schlich zu ihrer friedlich schlafenden Tochter, ein Anblick, der ihr stets
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