Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Beruhigung verschaffte, dann zum Fenster, von wo aus sie in den von silbergrauem Mondlicht erhellten Hof hinabsah. Kurze Zeit später betrachtete sie die gerahmte Zeichnung über der Kommode in ihrem kleinen Zimmer noch einmal genauer. Sie zeigte offenbar eine lange zurückliegende Weinlese, ein Mann mit einem Schopf wilder dunkler Locken war gerade dabei, eine Kiepe Weintrauben in den Bottich zu leeren. Ein stattlicher älterer Mann stand oben auf dem Wagen und rief den Helfern Anweisungen zu. Die Szene wirkte sehr lebendig. 8Tbr 179, konnte Claire am unteren Rand entziffern, also wahrscheinlich Oktober siebzehnhundertundnochwas. Die letzte Zahl ließ sich nicht entziffern. Nach einer Weile setzte sie sich auf ihr Bett. Endlich holte sie sogar den Brief hervor, den letzten, den ihr Vater ihr geschrieben hatte und der sie letztendlich bis hierher geführt hatte.
Wenn Du das liest, bin ich tot … Nie würde sie diesen Satz vergessen können, niemals. Carl Mylius schrieb in seinem Brief von Befürchtungen, die ihn kurz vor der Hochzeit seiner Tochter überfallen hatten. Davon, dass er hoffe, mit seinem Misstrauen gegen die Neubergers unrecht zu haben, und dass es doch nur die Gefühle eines eifersüchtigen Vaters seien. Wenn er aber recht behalte, dann müsse sie zu Onkel Ludwig gehen. Ludwig würde ihr Schutz bieten. Er kenne sie, sie seien schon mal bei ihm gewesen, auch wenn sie sich daran gewiss nicht erinnern könne.
Fröstelnd vor Müdigkeit kauerte Claire endlich auf dem Bett, die Decke fest um sich gezogen. Sie hatte nicht daran denken wollen, was in den letzten Wochen geschehen war, aber sie konnte nicht anders. Wie in einem Kinofilm, in einer endlosen Reihe von Bildern, strömten die Erinnerungen auf sie ein.
Frankfurt am Main, einige Wochen zuvor.
Irgendwo in dem viel zu großen Haus schlug eine Tür zu. Claire zuckte zusammen. Dass sie so schreckhaft war, daran musste sie sich noch gewöhnen. Sie war stets schüchtern, aber niemals ängstlich oder gar schreckhaft gewesen. Seit der Geburt ihrer Tochter allerdings war ihr, als ob ihr das eigene Herz nicht mehr im Leibe schlug, sondern außerhalb ihres Körpers existierte.
Doch heute war noch etwas anders. Claire beugte sich zum wiederholten Mal über die mit weißem Stoff ausgeschlagene Wiege, streifte den wallenden Vorhang beiseite, der bei ihr stets den Eindruck hinterließ, als könne er das Kind erdrücken. Ihre Schwiegermutter hatte ihr diese Wiege übergeben. Generationen von Neubergers hatten schon in ihr geschlafen. Auch Friederike würde deshalb ihre ersten Monate darin verbringen müssen, so war es Brauch.
Das kleine Mädchen hatte die Augen weit geöffnet und schaute seine Mutter nun mit jenem weisen Blick an, der nur kleinen Kindern eigen ist. Sogleich spürte Claire die Ängstlichkeit, die sie beim Anblick ihrer Tochter zuverlässig überkam.
Warum sieht sie so aus? Warum hat sie diese Haare, warum diese Augenfarbe?
Friederike verzog das Mündchen zu einem Engelslachen. Unvermittelt presste Claire sich die Hand auf den Mund und kämpfte gegen das wachsende Gefühl der Verzweiflung an.
Die Augen ihres kleinen Mädchens waren dunkel, schwarz fast, dabei hatten Claire und ihr Mann beide blaue Augen und blonde Haare. Auch die Haare der Kleinen waren schwarz. Anfangs hatte die Hebamme gesagt, dass sie diesen dunklen Schopf noch verlieren würde, dass es viele Kinder gab, die mit solchen Haaren geboren und dann später blond wurden.
Aber an diesen Augen gab es nichts zu deuten. Das waren Augen wie die des Mannes, der vor ein paar Wochen draußen auf der Straße Geige gespielt hatte. Augen wie die des Mädchens, das an der Tür Zündhölzer verkaufen wollte, oder wie die der Frau aus dem kleinen italienischen Wanderzirkus vom letzten Jahr. Solche Augen gab es nicht in der Familie Neuberger, und auch nicht in der Familie Mylius.
Claire bemühte sich, ruhiger zu atmen. Gestern erst hatte ihre Schwiegermutter Nora die erste Bemerkung gemacht über das Kind, das so keinem ähnlich sehen wollte.
»Sie ist ja noch so klein«, hatte Claire gemurmelt, und Wilhelms Schwester war ihr zur Seite gesprungen: »Man sieht ohnehin erst wirklich, wem sie ähnlich sehen, wenn sie älter werden.«
»Bei deinem Bruder haben wir es sofort gesehen«, hatte Nora knapp beschieden, dann aber nichts mehr gesagt.
Aber ihre Schwiegermutter hatte recht. Wilhelm hatte wohl immer ausgesehen wie eine Kopie seines Vaters, wenn er auch sehr viel schlanker war als der alte
Weitere Kostenlose Bücher