Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
sie heute noch nicht gesehen.«
»Ach, ich glaube, sie schaut sich die Gegend an. Claire und du, ihr habt sie nicht gesehen?«
Etwas entfernt klappte die Haustür, dann waren Schritte im Flur zu hören. Wenig später wurde die Tür zur Küche aufgestoßen.
»Tom«, rief Lea aus, bevor sie es verhindern konnte, und klang dabei, als fühle sie sich ertappt. Kurz darauf ärgerte sie sich darüber, denn Tom betrachtete den anderen Mann mit einem Mal wie einen Hund, der in das Terrain eines anderen Hundes eingedrungen war. Er nickte John zur Begrüßung sehr knapp zu, legte dann die Hand auf die Werkzeuge in seiner Hosentasche.
»Ich mach dann mal oben weiter«, sagte er, als hätten sie sich erst gestern gesehen.
Lea war zu perplex, um zu reagieren, und Tom schon wieder zur Tür hinaus, als sie aus ihrer Erstarrung erwachte.
»Entschuldige mich bitte, John.« Sie stürmte hinter Tom her. Der hatte die Treppe schon erreicht.
»Hey!«
Tom stampfte die Stufen nach oben, als habe er sie nicht gehört.
»Hey«, rief sie noch einmal.
Er gab immer noch vor, sie nicht zu hören. Sie folgte ihm.
»Wo warst du die ganze Zeit?«
Er fuhr zu ihr herum. »Wie wär’s mit einer Begrüßung?«
»Das könnte ich dir genauso sagen.«
Er ließ den Hammer in seiner Hand sinken und schaute sie an. »Ja«, gab er zu.
»Und?«
»Guten Tag, Lea.«
»Wo warst du?«
Er lächelte leicht. »Nein, nein, jetzt bist du dran.«
»Tag, Tom!« Sie machte eine kurze Pause. »Wo warst du?«
»Ist unwichtig. Unterwegs. Wie geht es dem Nachwuchs?«
Lea legte unwillkürlich eine Hand auf ihren Bauch. »Gut.«
»Und wer ist das da unten?«
»Mein Onkel.«
Sie musterte ihn. Hatte er vorhin wirklich eifersüchtig geklungen, oder bildete sie sich das ein?
Tom starrte sie an. »Du machst Witze.«
»Nein, das ist Claires jüngerer Sohn. Er ist also mein Halbonkel, genauer gesagt.«
»Hm.« Tom drehte sich zur Seite, hob den Hammer leicht an und klopfte gegen eine Stelle am Fensterrahmen. »Dann tut es mir leid.«
»Was?«
»Mein Auftritt eben.« Sie konnte ihn beinahe mit den Zähnen knirschen hören.
»Du kannst dich ja nachher entschuldigen.«
Tom rollte mit den Augen. »Wolf hat uns übrigens nächstes Wochenende zu Kaffee und Kuchen eingeladen«, wechselte er das Thema.
»Schön.« Lea wandte sich ab und marschierte auf die Treppe zu. Warum, fragte sie sich, hatte er eigentlich ihre Frage nicht beantwortet? Wollte hier denn niemand mehr die Wahrheit sagen?
S iebtes Kapitel
Sie brachen gegen Nachmittag auf und erreichten Wolf Wielands Haus etwa zwanzig Minuten später. Toms Onkel erwartete sie schon. Der Teil des alten Bauernhauses, den er bewohnte, lag im Hochparterre und war von außen über eine kleine Treppe erreichbar. Lea tätschelte dem Neufundländer den Kopf, der es sich neben einer Bank bequem gemacht hatte.
Galant nahm Wolf Wieland Lea im Flur ihre Jacke ab. Tom, der sich ja auskannte, ging schon voraus ins Esszimmer, wo bereits Kaffee und Kuchen bereitstanden. Kaffeeduft zog durch den Raum. Das Gedeck bestand aus feinem Porzellan. In einem Silberkännchen reichte Wolf echte Sahne zum Kaffee. Dazu gab es Apfelkuchen.
Als Lea eine halbe Stunde später ihre Kuchengabel ablegte, fühlte sie sich gesättigt, aber nicht übermäßig voll. Wolf hatte den Kuchen hauptsächlich mit Quark und nur wenig Sahne zubereitet. Tom nahm sich mittlerweile sein drittes Stück. Er hatte den ganzen Morgen schwer gearbeitet, sodass auch das obere Stockwerk inzwischen seiner Vollendung entgegensah.
»Tom hat mir gesagt, dass ihr Tante Ilse besuchen wolltet«, fing Wolf endlich an, »aber nun ja, es geht ihr nicht gut, und niemand weiß, wann oder ob es ihr je wieder gut gehen wird, und da dachte ich, dass ich sicherlich auch etwas weiß, was euch interessieren könnte.«
Lea, die sich für einen Moment mit den Krümeln auf ihrem Teller beschäftigt hatte, sah auf. Tom lehnte sich kauend in seinem Stuhl zurück.
»Noch etwas Kuchen?«, fragte Wolf. »Sonst würde ich erst einmal abräumen.«
»Nein danke, für mich nichts mehr«, sagte Lea.
Auch Tom schüttelte den Kopf. Als sie den älteren Mann wenig später in der Küche rumoren hörten, schaute Lea Tom fragend an.
»Worum geht es?«
»Keine Ahnung.« Er zuckte die Achseln.
Fünf Minuten später, die Lea wie eine Ewigkeit vorkamen, war Wolf wieder bei ihnen.
»Ich erzähle diese Geschichte nicht häufig, weil sie mich zwingt, an meinen Bruder zu denken«, sagte er endlich und
Weitere Kostenlose Bücher