Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
der Kreuznacher Konditorei Wahl kauften sie Kuchen – Wolf hatte ihnen gesagt, wie gerne Ilse Süßes mochte –, und wirklich jauchzte die alte Dame beim Anblick der lilafarbenen Tüten wie ein kleines Kind.
Ihre Erzählung fügte dem Puzzle weitere Teile hinzu.
In jedem Fall hatte Claire nichts von dem Skelett ge wusst, das war erst viel später gefunden worden. Aber Tante Ilse konnte ihnen zumindest sagen, dass es ein weibliches Skelett gewesen war, sicherlich schon über hundert Jahre alt, als man es in jenem Sommer 1951 gefunden hatte.
»Ich habe diesbezüglich übrigens ein wenig herumtelefoniert«, sagte Millie nun. »Das Skelett war, wie wir schon wissen, weiblich. Außerdem, konnte mir meine Quelle sagen, hat die Frau wohl mindestens ein Kind geboren.«
Faszinierend, was man an einfachen Knochen alles erkennen kann, dachte Lea, während sie Neele in ihren Armen wiegte.
Sie bemerkte jetzt, wie Tante Ilse ihr zulächelte. Die alte Dame war hocherfreut gewesen, das Baby im Arm halten zu dürfen. Tom hatte Lea zugeflüstert, dass sie schon lange nicht mehr so luzide gewesen sei wie heute.
Lea wäre gerne noch länger geblieben, doch schließlich bat eine Pflegerin sie zu gehen.
»Besucht ihr mich noch einmal«, Ilse hielt Leas Hand fest, »wenn’s Kindlein größer ist? Ich seh sie doch so gerne wachsen. Ich hatte leider nie eigene Kinder.«
Lea nickte. Auf dem Weg nach draußen quasselte Millie sofort drauflos: »Hm, sagt mal, meint ihr, das Skelett war unsere Briefeschreiberin?«
Lea zuckte die Achseln. »Könnte sein, aber das werden wir wohl nie erfahren.«
Sie spürte Tom dicht neben sich, dachte daran, dass es eigentlich noch so viel gab, was sie zu besprechen hatten, und wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Für einen Moment versuchte sie, sich auf Claires Gutshaus zu besinnen, an dem dieser Tage die letzten Arbeiten vorgenommen wurden. Unten musste noch eine Wasserleitung gelötet werden, dann gab es nur noch Kleinigkeiten zu erledigen, und dann? Würden sie dann alle in ihr altes Leben zurück kehren?
Wieder schweiften Leas Gedanken zu Tom, dann dachte sie an John und Judy, die lange wieder daheim waren und auf einen Gegenbesuch aus Deutschland hofften.
Lea starrte auf Toms Nacken.
Wenn er ihr eine Exfrau und ein Kind verschweigen konnte, was verschwieg er womöglich noch? Warum hatte er ihr nicht früher etwas davon erzählt?
Neele war inzwischen fest eingeschlafen und wachte auch nicht auf, als Lea sie zur Rückfahrt in den Kindersitz bugsierte und anschnallte. Es war recht kalt, fiel Lea jetzt wieder auf. Die heizungswarmen Räume des Heims hatten sie die feuchte Winterkälte vergessen lassen. Lea zupfte Neeles Mützchen zurecht.
Sie erreichten eben die Hauptstraße, als leichter Schnee fall einsetzte. Der Schneefall verstärkte sich nach einer Weile, Tom fuhr langsamer. Wenn sie den Kopf reckte, sah Lea im Licht der Scheinwerfer die Flocken tanzen. Es hatte viel geschneit in diesem Winter 1997. Irgendwann wachte Neele auf und begann herzzerreißend zu weinen. Tom fuhr an den Straßenrand, damit Lea die Kleine in Ruhe stillen konnte. Millie nahm sich derweil auf dem Vordersitz wieder einmal die Briefe vor.
»Es ist ohnehin besser, stehen zu bleiben«, sagte Tom. Tatsächlich waren Straße und Umgebung im Flockenwir bel kaum noch zu sehen. Vorne raschelte Millie mit den Briefen.
»Oh, Mann, ich glaube, ich verstehe endlich halbwegs, um was es geht«, sagte sie dann. »Eine verbotene Liebe, ein altes Geheimnis, das bis in unsere Tage nachwirkt … Generationen von Frauen, durch ein Ereignis miteinander verbunden.«
»Ich frage mich, warum die Briefe, die wir gefunden haben, von einer Frau stammten?«, fragte Lea sich mit leiser Stimme. »Sie hat doch auf dem Gut gelebt? Wir hät ten doch eher die Briefe desjenigen finden müssen, an den sie geschrieben hat, oder?«
»Vielleicht hat sie ihre Briefe kopiert?«, bemerkte Millie. »Vielleicht hat sie sie auch nie abgeschickt?«
»Doch, doch … Sie gibt ja Antworten«, fiel jetzt Tom ein.
»Hm, allerdings.« Millie raschelte wieder mit den Blättern. »Und dazu gibt es diese Beschreibungen von Ereignissen. Ich frag mich ja auch, warum die mit den Briefen zusammen versteckt wurden.«
Lea wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als ganz in der Nähe eine Sirene losging, aufheulte, verklang und wieder aufheulte. Nur wenig später waren von ferne Martinshörner zu hören. Neele rührte sich nicht. An der Brust ihrer Mutter hatte sie
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