Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
nicht überwinden konnte. Vielleicht ist zu viel geschehen, dachte sie, vielleicht müssen wir alle etwas Abstand gewinnen. Vielleicht müssen wir uns etwas Zeit geben, um ein Ende für diese Geschichte zu finden. Und was ist das Ende für Marianne und die anderen? Was ist geschehen damals, in Bonnheim, vor so vielen Jahren?
Das Kind in ihren Armen öffnete die Augen, bewegte Arme und Beine unkoordiniert. Dann spitzte es die Lip pen und machte einige saugende Bewegungen in die Luft. Ein Gefühl vollkommener Liebe floss wieder einmal wie eine warme Woge durch Lea hindurch. Die Kleine hatte helle Haare, aber erstaunlicherweise hatte sich schon nach wenigen Tagen gezeigt, dass ihre Augen dunkel werden würden. Vollmilchschokoladenbraun. Waren das die Augen des Italieners?
Wir sollten nach Italien fahren, dachte Lea, wir sollten dorthin fahren, wo Gianluca herkam. Gemeinsam.
E rstes Kapitel
Levanto, April 1998
Ligurien … Nach 900 km und beinahe zwölf Stunden Fahrt trafen sie am Meer ein. Lea, die als Letztes gefahren war, lenkte Rikes Kadett auf den Parkplatz, der oberhalb des Strandes lag, und stellte den Motor ab. Einen Moment lang saßen die drei Frauen nur da und schauten schweigend auf das Meer hinaus, das im Licht der untergehenden Sonne gelbgolden funkelte.
Vier Generationen, dachte Lea, in einem Auto.
Sie löste den Gurt, öffnete die Tür und stieg aus. Es tat gut, ein paar Schritte zu gehen. Sie stützte die Hände in den Rücken, dehnte und streckte sich ein wenig. Die Luft war angenehm warm, aber nicht zu warm. Ein leichter Duft von Piniennadeln, Meer und Kräutern lag in der Luft. Lea hörte den sanften Wellenschlag, der sich mit den Stimmen der Strandbesucher und Spaziergänger weiter unten mischte. Vor ihr näherte sich der sattgelbe Sonnenball inzwischen immer mehr der rötlichen Linie des Horizonts.
Lea trat langsam an das Geländer und schaute von dem höher gelegenen Parkplatz aus nach unten. Sosehr sie die Schwangerschaft genossen hatte, es tat doch gut, dass sie ihren Körper wieder für sich hatte. Sie stützte beide Arme auf die oberste Geländerstange. Das Meer glitzerte und funkelte, als bestünde es aus unzähligen Perlen und Edelsteinen. Am Strand tankten die Gäste die letzten Son nenstrahlen, bevor die Nacht anbrechen würde.
Verwirrende Gedanken schossen durch Leas Kopf, von denen sich keiner so einfach greifen ließ. Was hofften sie hier zu finden? War das der Ort gewesen? War Gianluca von hier aus aufgebrochen, um im Norden nach seinem Glück zu suchen? Hatten die Briefe, die Millie noch einmal sorgfältig daraufhin durchgesehen hatte, ihnen die wahre Information gegeben?
Sie richtete sich wieder auf. Zuerst einmal würden sie ihre Ferienwohnung aufsuchen. Dort konnte Claire sich etwas ausruhen, während Rike und sie selbst das Gepäck in die Wohnung brachten. Einen Moment noch würde sie sich Zeit lassen.
Weiches Italienisch klang von unten zu ihr herauf, er wachsene Stimmen mischten sich mit denen von Kindern. Aus den Augenwinkeln bemerkte Lea eine Bewegung und schaute in die betreffende Richtung. Ein Eis essendes Pär chen schlenderte zu seinem Auto, entschied sich dann, ebenfalls nach vorne zum Geländer zu gehen und den Sonnenuntergang in enger Umarmung zu genießen.
Sie störten sich nicht an Lea, und die musste sich schier vom Anblick des Paars losreißen. Sie hatte sich nicht von Tom verabschiedet. Hatte nicht abgewartet, bis er aus Ham burg zurückkehrte, wo er dieses Mal vier lange Wochen verbringen wollte.
Was wird er sich wohl denken? Na ja, vielleicht gar nichts, vielleicht … Was sollte er sich schon denken?
Mittlerweile waren auch Rike und Claire ausgestiegen. Lea schaute erneut zum Strand. Auf dem Platz unterhalb spielten Kinder, während ihre Mütter miteinander schwatzten und sich ältere Leute wahrscheinlich über die Gescheh nisse des Tages austauschten.
Lea schloss die Augen. Von irgendwoher schwebte plötzlich der Geruch nach Essen in ihre Nase: fruchtige Tomaten und Kräuter. Mit einem Mal hatte sie Hunger. Sicherlich dauerte es auch nicht mehr lange, bis Neele auf wachte. Mit einem kleinen Seufzer trennte Lea sich vom Anblick des Meeres.
Sie entdeckten die Agentur für die Ferienwohnungen wenig später. Man händigte ihnen einen Schlüssel aus, die Wohnung fand sich ebenfalls rasch. Claire war froh, sich ausruhen zu dürfen. Vor der Abfahrt hatten sie noch gemeinsam ihren 86. Geburtstag gefeiert. An dem Tag war Wolf Wieland bei ihnen gewesen, und
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