Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
kannst mich nicht halten. Du hast mich längst verloren, Vater.«
Obwohl der Fackelschein nur für sehr diffuses Licht sorgte, erschien es Helene, als verändere sich Valentins Aus druck mit Mariannes letzten Worten. Einen Moment lang blieb er stocksteif stehen, dann stürzte er vorwärts. Ein Wutschrei entrang sich seiner Kehle.
»Wirst du wohl einmal still sein, du widerborstiges Weib? Wirst du endlich einmal still sein und mir gehorchen?«
Während er sich ihr noch näherte, stolperte der Vater mit einem Mal und stieß dann mit voller Wucht gegen seine Tochter. Marianne taumelte, verlor den Halt. Helene sah noch, dass der Vater sie zu greifen suchte, doch es war zu spät. Die Bretter, die das Loch nur noch notdürftig abgedeckt hatten, verrutschten und vergrößerten es. Es ging so schnell, dass Marianne noch nicht einmal schreien konnte. Krachend stürzte sie in die Tiefe. Dann war es still.
»Es war ein Unfall«, rief Valentin mit zitternder Stimme, während er auf Knien vor dem Loch lag. »Marianne, sag doch etwas. Das wollte ich nicht, Täubchen, das wollte ich nicht.«
Helene stieg als Erstes die Leiter hinunter, doch sie konnte nichts mehr tun. Noch während sie sich über ihre Schwester beugte, erkannte sie, dass Mariannes Hals gebro chen, das Leben längst aus dem Blick der Älteren gewi chen war. Sie horchte, fürchtete plötzlich, Gianluca könne just in diesem Moment zurückkehren, doch alles blieb still.
»Sie ist tot«, sagte sie endlich leise. Es ging so schnell. Ma rianne ist tot.
»Ich habe sie umgebracht.« Valentin presste sich die Hände vors Gesicht. »Warum tut sie mir das an? Sie ist mir doch immer das Liebste gewesen, immer das Liebste …«
Wortlos stieg Helene aus der Kammer wieder nach oben, legte ihrem Vater eine Hand auf die Schulter.
»Ich habe sie umgebracht«, wiederholte der fassungslos. »Ich habe sie umgebracht.«
Er hat genug gelitten, dachte sie. Sie musste entscheiden, was jetzt zu tun war. Alles sollte wieder werden wie immer, darum würde sie sich kümmern. Sie mussten vergessen, was geschehen war. Niemand sollte je wieder darüber sprechen. Es war ein böser Traum, aus dem sie erwachen mussten.
»Nein, Vater«, sagte sie ruhig. »Es war ein Unfall.«
»Und wer soll das glauben, nach allem, was geschehen ist?«
Wieder schaute Helene auf ihre tote Schwester herunter.
»Kann man denn wirklich zu viel lieben, Helene?«, hatte die Ältere sie erst gestern gefragt. »Ich habe doch nichts getan, als zu lieben. Ich wollte nie etwas Böses.«
»Und warum hast du nie daran gedacht, wie es uns damit geht?«, hörte Helene noch einmal die eigene Stimme.
»Uns?« Marianne hatte ihre Schwester müde angesehen. »Oder dir? Sprechen wir nicht darüber. Die Liebe ist eine Himmelskraft. Was kann man dagegen tun, sag mir das?«
Helene verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihren Vater an. »Niemand muss das wissen«, sagte sie dann langsam. »Wir sollten sie hier beerdigen. Wir sollten verbreiten, dass sie fortgelaufen ist. Wir haben genug gelitten, Vater.«
Valentin schwieg. Helene deutete auf den Fuß der Leiter. »Lass sie uns begraben, gleich dort.«
Ihr Vater hob den Kopf. »Wo? Hier?«
»Wir haben genug gelitten, Vater.«
»Was sagen wir ihm?«
»Ich denke darüber nach. Lass es meine Sorge sein.«
»Du bist ein gutes Kind, Helene.«
Sie antwortete nicht.
Es war nicht leicht, ein ausreichend großes Loch in den Boden der Kammer zu hacken. Als sie damit fertig waren, lief ihnen der Schweiß in Strömen über Gesicht und Körper. Helene schlich sich noch einmal ins Haus und holte ein Laken, in das sie den Leichnam einwickelten. Durch einen Spalt in der Tür sah sie die Mutter, die inzwischen auch zurück war, und eine Magd in der Küche sitzen. Im Haus schlief auch zu dieser späten Stunde keiner.
Die Welt hatte sich verändert, fuhr es Helene durch den Kopf, als sie endlich die Erde über Mariannes Grab flach klopften. Und was auch immer ich mir erhofft habe, sie wird nie mehr so sein, wie sie einmal war.
Einige Tage später lud Anton Helene zu einem Ausflug nach Mainz ein. Tante Juliane, hieß es, war mittlerweile aus Frankfurt zurückgekehrt, und so hatten die Eltern nichts einzuwenden. Helene war schließlich immer vernünftig gewesen.
Z weites Kapitel
Das alte Mainz war verschwunden. Zwischen Dom und Tiermarkt hatte der Beschuss der Preußen schwere Zerstörungen angerichtet. Auch der Dom selbst war getroffen worden. Die Favorite, die Dompropstei,
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