Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
einmal mit ihr gesprochen?«, fragte Lea, während sie noch dabei war, die Tür aufzuschließen.
»Aber wir wissen doch nicht, was geschehen ist«, sagte Rike. »Wir wissen nicht, ob sie tot ist.«
Als Lea die Tür öffnete, schimmerte Licht im Wohnzimmer. Leise Musik war zu hören. Mit schnellen Schritten hatte Lea den Flur durchquert und stand dann starr im Eingang zum Wohnzimmer.
»Claire!«
Mit einem Schnaufen fuhr die alte Dame aus dem Sessel hoch, in dem sie offenbar über ihrem Buch eingenickt war.
»Lea, wo warst du denn nur so lange?« Sie starrte ihre Enkelin an, dann fiel ihr Blick auf Rike.
»Rike«, flüsterte sie. Ein Wechselbad von Gefühlen zeichnete sich auf dem Gesicht der alten Frau ab. »Was macht ihr beide denn hier um diese Uhrzeit?«
Lea zögerte. »Claire, es ist … Es gab ….«
Claire zog die Augenbrauen zusammen. »Was denn? Was ist denn nur passiert? Ich muss eingeschlafen sein … Meine Güte, ihr seid ja beide kreidebleich.«
»Es hat gebrannt«, sagte Rike, »das Weingut …«
»Es hat gebrannt? In Bonnheim?« Innerhalb von Sekunden musste Claire die Erkenntnis getroffen haben. Niemals hätte Lea gedacht, ihre Großmutter so fassungslos zu erleben. Ihre Lippen bewegten sich, als suchten sie vergeb lich Worte hervorzubringen, dann richtete Claire sich has tig auf. Lea sprang ihr gerade noch zur Seite, bevor ihre Großmutter das Bewusstsein verlor.
Als Claire wenig später wieder zu sich kam, saßen Lea und Rike an ihrer Bettseite. Claire lächelte kläglich.
»Ich hätte wohl nicht so unvermittelt aufstehen sollen. Ich werde doch alt.«
»Sechsundachtzig in diesem Jahr«, murmelte Rike.
Claire nickte. »In den letzten langen Wochen hätte ich nicht gedacht, dass wir einmal so zusammensitzen«, sagte sie dann leise.
»Was hast du dir denn vorgestellt?«, fragte Rike. »Wenn du über uns nachgedacht hast?«
Claire sah ihre Tochter an. »Ich dachte, zuerst baue ich das Weingut wieder auf, in dem ich mit dir die schönste Zeit meines Lebens verbracht habe. Ich dachte, wenn ich damit fertig bin, dann würde mir schon einfallen, was ich dir sage …«
»Vielleicht hättest du einfach mit mir sprechen sollen.«
Claire schloss die Augen und gab keine Antwort. Ihre Brust hob und senkte sich unregelmäßig.
»Vielleicht sollten wir sie doch ins Krankenhaus bringen?«, flüsterte Lea.
Sofort öffnete ihre Großmutter ihre Augen wieder. »Nein, ist schon gut. Das waren ein paar kleine Kreislaufprobleme.« Sie machte eine Pause. »Es ist schwer, über das nachzudenken, was man alles falsch gemacht hat«, sagte sie dann und schaute ihre Tochter wieder an. »Bitte, Rike, ich möchte so vieles gutmachen. Ich möchte, dass wir noch einmal neu anfangen, auch wenn ich nicht weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt.«
Rike verschränkte die Arme vor der Brust. Claire zog die Hand wieder zurück, die sie nach ihrer Tochter ausgestreckt hatte.
»Ich habe sicherlich viele Fehler gemacht«, sagte sie dann, »aber ich weiß auch nicht, ob ich anders hätte handeln können. Verstehst du das? Kannst du dir vorstellen, unter welchem Druck ich damals stand? Sie sagten mir, man würde mich einsperren, entmündigen. Sie sagten, ich würde niemals mehr in meinem Leben freikommen. Sie sagten, sie hätten so viele Beweise, dass etwas nicht stimmt mit mir …«
Claire streckte die Hand erneut zu ihrer Tochter hin, und nach einem Zeitraum, der Lea wie eine Ewigkeit vor kam, ergriff Rike diese. Es war dieser Moment, in dem Lea leise aufstand und, den Maxicosi im Arm, aus dem Zimmer schlich. Keine der beiden Frauen schien das zu bemerken.
Wenige Tage später lag Lea gemeinsam mit Neele auf ihrem Bett. Sie hatte nur die Schuhe von den Füßen gestreift und die Jacke ausgezogen. Eben waren sie von der Brandstelle nach Hause gekommen. Der Geruch nach Rauch war immer noch in ihrer Nase. Claire hatte sich bisher geweigert, nach Bonnheim zu gehen. Sie war ruhiger geworden seit dem Unglück, weniger zupackend. Sie lachte auch weniger, und wenn Lea von der Situation vor Ort berichtete, schien es ihr fast gleichgültig. Die Auf räumarbeiten würden noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Wolf Wieland kümmerte sich um die Koordination. Tom wollte sich ihm anschließen, wenn er wieder aus Hamburg zurückkam. Seine Tochter hatte in Kürze Geburtstag, und er wollte an diesem Tag bei ihr sein.
Lieb von ihm, sagte Lea sich, und doch fühlte sie leisen Unwillen in sich, für den sie sich schämte, den sie aber doch
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