Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
die Jesuiten- und die Liebfrauenkirche sowie mehrere Palais und Bürgerhäuser lagen in Schutt und Asche.
Helene konnte nicht sagen, warum sie sich gewünscht hatte, noch einmal hierher an den Fluss zu kommen – oder vielleicht doch? Hier war ihr im Juli 1793 Gianluca vor die Füße gefallen, wie eine Sternschnuppe, die man nicht halten konnte.
Wenn sie aus Mainz zurückkehrte, würde sie mit ihm sprechen müssen.
Sie runzelte die Stirn, hielt den Blick auf die Stelle gerichtet, an der einstmals die Favorite gestanden hatte, und sah Anton nicht an, obwohl sie seine Augen auf sich fühlte.
War es wirklich dort gewesen? Sie konnte sich nicht erinnern. Hatte sich dort der Gartensaal erhoben, Terrassen, Orangerie und Springwerke? Waren hier die höchsten Häupter, Prinzen und Fürsten bewirtet worden? Der Kurfürst war seit der Rückeroberung der Stadt unter großem Jubel einmal zurückgekehrt und bald wieder nach Aschaffenburg abgereist, das doch einmal nur zweite Residenz gewesen war.
Nein, auch er würde nicht zurückkehren, Helene war sich sicher, dass sie alle vergeblich auf eine erneuerte, gute alte Zeit hofften. Das alte Mainz war vergangen und würde nicht wiedererstehen. Christoph hatte recht behalten, das Fest, dem sie damals alle beigewohnt hatten, sollte das letzte seiner Art hier bleiben. Nach dem Abzug der Fran zosen war Mainz nun eine österreichisch-preußische Garni son. Anton sagte plötzlich etwas. Helene drehte sich zu ihm hin.
»Wie bitte?«
»Geknüpft an jene Erinnerung macht die Gegenwart nur noch einen unerträglichen Eindruck«, wiederholte Anton seine Worte. »Ich weiß nicht, wer das gesagt hat. Irgendjemand habe ich das sagen hören …«
Unvermittelt schlang Helene die Arme um den Körper. Es war Sommer, doch sie fror.
Zehnter Teil
E in Anfang und ein Ende
Januar bis April 1998
N eele und Claire
Die Wehen setzten zehn Tage vor dem Termin ein, obwohl es immer geheißen hatte, Erstgebärende würden übertra gen. Nur sechs Stunden später erblickte Leas Tochter Neele das Licht der Welt. Am ersten Tag war Lea noch zu müde, um sich wirklich um das Baby zu kümmern, auch wenn sie mechanisch alles tat, damit es der Kleinen gut ging. Erst am folgenden Tag setzte ein Gefühl von Faszination ein, und sie konnte sich gar nicht sattsehen an ihrem Kind.
Zum ersten Mal seit Längerem dachte sie an Marc und fragte sich, ob er seine Tochter wohl eines Tages kennenlernen würde. Tom kam zu Besuch, und sie wechselten einige unverfängliche Worte miteinander. Lea dachte an den Tag vor wenigen Wochen, an dem sie Tom unverhofft gemeinsam mit einer unbekannten Frau und einem kleinen Mädchen im Eiscafé Riviera entdeckt hatte. Stumm hatte sie ihn angestarrt und hatte sich auch nicht rühren können, als er auf sie zugekommen war.
»Hallo, Lea.« Er hatte sich geräuspert. »Darf ich dir vor stellen, das ist Conny, meine Exfrau, und Mia, unsere Toch ter.«
Conny hatte ihr grinsend zugewinkt, Lea hatte es kaum geschafft, den Arm zu heben.
Hätte er mir früher von seiner Tochter und von seiner Ehe erzählen müssen?, fragte sie sich mehrfach in diesen ruhigen Tagen im Krankenhaus.
Rike kam und ging, als Claire ihren Besuch telefonisch ankündigte. Die beiden mieden einander noch immer.
Zu Hause kam auch Millie zu Besuch, und gemeinsam mit ihr nahm Lea sich erneut die Briefe vor.
»Nachdem Claire von einem Italiener erzählt hat, Onkel Ludwigs Gianluca, du weißt schon«, sagte Millie, »habe ich alles noch einmal daraufhin durchgesehen, und es gibt wirklich Stellen, die nun einen ganz neuen Sinn ergeben. Erinnerst du dich noch an die Kirche am Meer, die uns so verwundert hat? Wir haben doch immer gedacht, dass wir das falsch lesen. Hier gibt es ja kein Meer, aber die Schreiberin spricht ja auch nicht von hier … Und dann gibt es da noch einen Ort, den ich nie entziffern konnte. Ich habe jetzt noch einmal nachgeschaut. Es gibt einen Ort namens Levanto. Das ist ein kleines Städtchen in Ligurien.« Millie lachte. »Es ist doch unglaublich, was man alles entdeckt, wenn man einen neuen Blick auf die Sache wirft.«
Lea nickte.
Als Wolf Wieland Anfang Februar, etwa drei Wochen nach Neeles Geburt, die Nachricht überbrachte, Tante Ilse gehe es gut genug, um Besuch zu empfangen, war Millie sofort bereit zum Aufbruch. Lea zögerte ein wenig, bevor sie Tom anrief, doch schließlich war er von Anfang an an der Suche beteiligt gewesen.
Tom bot an zu fahren, und Lea und Millie nahmen dankbar an. Bei
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