Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Wil helm sie, Claire, auch gefragt, ob sie seine Frau werden wolle. Ob es dieses Bad noch gab? Sollte sie es ebenfalls aufsuchen? Würden die Erinnerungen nicht zu schmerzhaft sein?
Aber damals hatte sie ja nichts weiter gewusst. Wilhelm war der erste Mann gewesen, der ernste Absichten gezeigt hatte, und der schönste Mann, der Claire je darum gebeten hatte, ihr Leben mit ihm zu teilen. In diesem Moment, so erinnerte sie sich noch, als wäre es heute ge wesen, war sie sprachlos gewesen vor Glück. Nur Johanne hatte nachdenklich ausgesehen.
»Meinst du, er ist der Richtige?«, hatte die Freundin sie gefragt, und als sie, Claire, im Glückstaumel nickte, hatte Johanne sie in den Arm genommen.
»Mein Täubchen«, hatte Johanne ihr ins Ohr geflüstert, »mein süßes, unschuldiges Täubchen, dann wünsche ich dir natürlich alles, alles Gute.«
Eine Woche später hatte Wilhelm persönlich bei ihren Eltern um Claires Hand angehalten. Ach, wie glücklich Carl und Aurelia Mylius über die gute Partie gewesen wären. Sie hatten das Angebot natürlich nicht überprüft, hatten den Pferdefuß nicht erkannt. Nun ja, sie hatten sich eben alle getäuscht.
Aber sie wollte jetzt nicht an Wilhelm denken. Sie wollte an Johanne denken. An Johanne, die Schauspielerin hatte werden wollen und die eine der ersten Frauen in ihrem Umkreis gewesen war, von der Claire wusste, dass sie rauch te – natürlich heimlich, mit Zigarettenspitze.
»Mutter würde der Schlag treffen«, hatte sie grinsend dazu gesagt. Für Johanne war das Wort mondän erfunden worden.
Claire seufzte, senkte die Kuchengabel erneut in die Torte und schob sich ein weiteres Stück in den Mund. Für das, was sie vorhatte, hätte sie gerne Johanne an ihrer Seite gehabt. Die Dinge waren immer leichter gewesen, gemeinsam mit ihr.
Aber es war zu spät. Das hier musste sie alleine durchstehen. Claire schloss die Augen, dachte an einen blonden, großen Mann, dem sie einmal zu sehr vertraut hatte, und an ein weinendes Kind. Es gab schöne Erinnerungen und grausame. Man konnte sie sich nicht aussuchen.
Der Hauptfriedhof befand sich im Frankfurter Nordend zwischen der Eckenheimer Landstraße, dem Marbachweg, der Gießener Straße und der Rat-Beil-Straße und breitete sich auf einer Fläche von knapp 70 Hektar aus. Claire hatte sich mit dem Taxi dorthin bringen lassen, vor bei an der sogenannten Deutschen Bibliothek und am Bürgerhospital und endlich über die Friedberger Landstraße in die Rat-Beil-Straße hinein, wo sie ausgestiegen war. Irgendwo hier war eine Bäckerei, von der sie einmal zufällig gehört hatte, als sich erstmals ein Pärchen aus Frankfurt auf ihr australisches Gut verirrt hatte. Ob sie damals schon die Idee gehabt hatte, hierher zurückzukehren? Jedenfalls hatte sie länger als üblich bei den beiden gesessen, wenn sie sich auch nicht als ehemalige Frankfurterin zu erkennen gegeben hatte.
Als sie schließlich abgereist waren, hatte sie jedenfalls erstmals seit langer Zeit Friederikes Bild aus den Unterlagen geholt, das einzige, welches sie noch hatte. Das einzige, welches sie damals hatte mitnehmen können. Eine acht Monate alte Friederike war darauf zu sehen, die ernst, auf eine Art düster, wie es nur kleine Kinder vermochten, in die Kamera blickte. Plötzlich musste Claire an Judy in ihrem verwaschenen Micky-Maus-Shirt denken. Sie musste ihre Enkelin unbedingt anrufen. Judy wartete sicher schon.
Ohne Judy und Mrs. Carlyle wäre sie nie so weit gekommen.
Claire blickte die Straße entlang. Nachher, entschied sie, würde sie für Lea und sich noch ein Stück Kuchen kaufen. Jetzt aber steuerte sie entschlossen den Friedhofseingang an, blieb kurz vorher noch einmal stehen. Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute an der Mauer hoch , die den Friedhof umschloss. Früher waren Johanne und sie hier gerne spazieren gegangen. Es war ein schöner, parkähnlicher Friedhof, ein ruhiger Ort zum Nachdenken. Johanne hatte hier ihr erstes Rendezvous. Und Claire hatte hier entschieden, dass sie nach Australien gehen würde.
Sie ging langsam weiter, erreichte den Eingang Gruf tenweg. Während sie im Café gewesen war, musste es kurz geregnet haben, denn von den Bäumen tropfte Wasser herab. Claire umrundete vorsichtig eine Pfütze. Johannes Grabstein befand sich genau dort, wo es ihr am Telefon beschrieben worden war, ein trauernder Engel mit einer Lilie in der Hand, über den Johanne sicherlich nur ge lacht hätte. Johanne hatte sehr despektierlich sein
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