Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
können, was dergleichen anging. Manchmal lachte sie so sehr, dass sich andere Besucher des Friedhofs irritiert umsahen. Sie war so voller Leben gewesen, so voller Pläne. Wer auch immer den Grabstein hatte aufstellen lassen, es war sicherlich nicht Johannes Wahl gewesen. Claire musterte ihn ge nauer: Johanne Neuberger, 1911–1932.
Wieder durchfuhr sie ein Schauder. Johanne war im selben Jahr gestorben, in dem sie fortgegangen war. Das erklärte, warum Claire nie eine Antwort auf ihre Briefe erhalten hatte. Ein Autounfall, so hatte der Detektiv in Erfahrung gebracht, aber warum? Was war damals nur geschehen? Kurz streifte Claires Blick Wilhelms Grab in unmittelbarer Nähe, und dann noch das Grab seiner Eltern.
»Hallo, Jo«, sagte sie endlich leise, »lange nicht mehr ge sehen, was?«
In ihrer Nähe brachte ein Windstoß die Krone eines Baums in Bewegung.
»Bist du da?« Claire konnte nicht umhin, dies mit einem Lächeln zu fragen. »Ich habe dir so viele Briefe geschrie ben, aber du hast sie wohl nicht bekommen, was? Und ich dachte, wir hätten uns einfach aus den Augen verloren, und dann kam auch noch das Leben dazwischen … Und wo bist du jetzt, Johanne? Wahrscheinlich ist es ja auch bald Zeit für mich, und ich wäre doch so gerne informiert. Wie alt ich bin? Rat mal. Ja, genau, fast hundert. Faltig, sagst du, ich erzähl dir gleich was! Ich bin übrigens gerade bei meiner Enkelin zu Besuch, Friederikes Kind, eine wirklich nette junge Frau. Ja, Friederikes Kind. Ob ich ihr die Wahrheit gesagt habe? Nein … Ja, natürlich muss ich das. Ich weiß, ich weiß doch … Du musst mir das nicht sagen …«
Gib mir nur bitte etwas Zeit für die Wahrheit. Sie wiegt schwer, weißt du, sehr schwer, denn ich habe etwas Unverzeihliches getan …
Claire schwankte, streckte die Hand aus und hielt sich an Johannes Grabstein fest.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte eine ruhige, dunkle Stimme hinter ihr. Sie zuckte zusammen, blickte sich dann langsam um.
»Ja, danke, alles in Ordnung. Ich unterhalte mich mit einer Freundin.«
Sie lächelte den Spaziergänger freundlich an. Der mus terte sie kurz und verabschiedete sich dann höflich. Claire drehte sich wieder zum Grab hin.
»Siehst du, jetzt denkt er, die alte Schachtel hat doch nicht alle Latten am Zaun. Das soll mir egal sein, meinst du? Keine Angst, ich komme trotzdem wieder, Jo. Jetzt, wo ich dich endlich gefunden habe. Das ist doch klar.«
Verstohlen wischte Claire sich eine Träne aus den Augenwinkeln und ging davon.
Lea hatte kaum bemerkt, wie die Zeit vergangen war. Inzwischen war in der Küche kaum noch etwas von der alten Unordnung zu sehen. Zufrieden stemmte sie die Hände in die Seiten. Es roch dezent nach Putzmitteln, eine Mischung aus Chemie und Zitronenduft. In der Küche war es dämmrig geworden. Lea griff nach dem dreiarmigen Leuchter auf dem Tisch, den sie aus ihrer Wohnung mitgebracht hatte, und entzündete die dicken, gelben Kerzen. Dabei stellte sie sich eine Frau in einem hochgeschlossenen dunklen Kleid im Stil des späten 19. Jahrhunderts vor, das Haar in einem Dutt zusammengenommen, während vorne einige lockige Strähnen ihr Gesicht umspielten. Ein Lächeln kerbte sich in Leas Mundwinkel.
Morgen würde sie als Erstes einen Elektriker wegen der alten Leitungen anrufen und natürlich den Klempner. Ach, am besten machte sie Termine mit allen Handwerkern aus. Immerhin war der alte Kamin noch gut in Schuss. Herr Wieland hatte ihn überprüft und befunden, dass er in beinahe tadellosem Zustand war – jedenfalls ver glichen mit dem Rest des Hauses.
Jetzt aber hatte sie erst einmal Hunger. Kühler war es auch geworden. Fröstelnd nahm Lea ihre Strickjacke vom Stuhl und zog sie über. Sie musste nachher unbedingt noch einmal überprüfen, wann Rike aus dem Urlaub kam. Fünf lange Wochen, die Kur eingerechnet. Sie wollte nicht, dass Claire und sie einander unverhofft gegenüberstanden. Sie wollte vorher mehr über Claire erfahren.
Lea gab sich einen Ruck und entschied sich doch dafür, den Tisch mit den mitgebrachten Dingen zu decken. Sorg sam richtete sie Käse und Wurst auf Papptellern an, füllte Essiggurken in eine kleine Plastikschüssel und verteilte dann Teller und Besteck.
Wenig später war draußen endlich ein Motor zu hören. Lea verwarf die Idee, Claire zu fragen, wo sie gewesen war. Ihre Großmutter sollte weder den Eindruck haben, die Enkelin spioniere ihr nach, noch, dass sie sich für irgendetwas rechtfertigen müsse.
Lea setzte sich.
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