Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
schaute sich um. Sie war jung gewesen bei ihrem letzten Besuch hier. Vielleicht strahlte dieser Ort für sie deswegen einen solch angenehmen, eigenartigen alten Charme aus – etwas Vertrautes in einer Umgebung, die sich vollkommen geändert hatte, denn die Stadt, die sie kannte, und auch dieses Café waren den Kriegsbomben zum Opfer gefallen. In der nächsten Umgebung standen nur noch wenige alte Gebäude zwischen modernen Häss lichkeiten. Die Zeil, jene berühmte Frankfurter Verkaufsader, war ebenfalls nicht mehr dieselbe. Claire hatten die Ströme von Kaufwilligen beinahe erschreckt. Die Stadt war ihr fremd geworden. Sie kannte niemanden mehr hier. Nachdenklich nahm sie einen ersten Schluck Kaffee und teilte mit der Kuchengabel sorgfältig ein kleines Stückchen Torte ab.
Sie versuchte, dem Ganzen etwas Gutes abzugewinnen. Die Anreise hatte immerhin weniger Zeit in Anspruch genommen als damals noch. Als sie jung gewesen war, hatte sie diese Strecke mit dem Zug fahren müssen. Ein langer Fußweg war vorausgegangen, denn vorher hatte es zuerst einmal gegolten, den Bahnhof zu erreichen. Sie hatte diesen Weg allerdings nicht oft genommen, genauer gesagt nur zweimal. Das Taxi heute war lediglich eine kurze Strecke über Land gefahren, um dann auf die Auto bahn einzubiegen.
Das ruhige Brummen des Motors hatte Claire bald schläfrig gemacht. Ein Gedanke führte zum nächsten. Bil der stürmten auf sie ein, ohne dass sie sich ihrer hätte erwehren können. Wieder einmal hatte sie keine Kontrolle über ihre Erinnerungen gehabt, hatte sie nicht abschalten können, so wie es ihr sonst gelang. Immer wieder hatte sie sich mit dem festen Willen in den Polstern ihres Taxis aufgerichtet, an Judy und John im Swan Valley zu denken, bei denen sie sich erst einmal gemeldet hatte, sich der Landschaft draußen zu widmen, den Plänen für den heutigen Tag, dem Gut, das sie erworben hatte, doch es hatte ihr nicht gelingen wollen.
Mit einem leisen Seufzer hatte sie schließlich aufgegeben. Schon vor dem Beginn der Reise hatte sie doch gewusst, dass sie den Erinnerungen nun nicht mehr entkommen konnte. Nicht wollte. Deshalb war sie hier. Weil es Zeit war, die Augen nicht mehr zu verschließen. Sie dachte an die Fliesen, die sich als Letztes in ihr Gedächtnis gebrannt hatten, an jenem Tag, an dem sie das Gut hatten verlassen müssen.
Und was nun? Was glaubte sie eigentlich heute noch erreichen zu können? Johanne war tot, Friederike, ihre Tochter, hatte ihr Leben ohne die Mutter zugebracht und wollte sie vielleicht ohnehin nicht sehen.
Das ist es, wovor du Angst hast, nicht wahr? Dass sie dich nicht sehen will. Du zuckst ja jedes Mal zusammen, wenn Lea deine Tochter erwähnt. Rike nennt sie sie. Ach, Lea …
Sie war in den letzten Tagen wirklich erleichtert gewesen, wie schnell sie beide Zugang zueinander gefunden hatten. Ihre Enkelin war eine unkomplizierte junge Frau. Eigentlich, und auch wenn das seltsam klang, hatte sie sich vom ersten Augenblick an wie Familie angefühlt.
Mit ihrer Kuchengabel nahm Claire den nächsten Happen Torte auf. Zuerst einmal wollte sie aber ein wenig hier im alten Café Bräutigam verweilen, an dem Ort, an dem Johanne und sie gemeinsam viel Zeit über Kaffee und Kuchen verbracht hatten. Später, wenn nach dem Friedhof noch Zeit blieb und sie stark genug war, wollte sie die anderen Stellen ihrer Erinnerung aufsuchen.
Einen Moment lang konnte Claire den Geschmack des Erdbeerkuchens kaum mehr spüren. Sie legte die Gabel ab, blickte sich um im Versuch, sich zu sammeln. Zwei Männer mittleren Alters kamen soeben herein. Mit einer einladenden Geste wies der eine auf einen runden Tisch nahe der Tür. Die Bedienung eilte herbei. Claire konnte hören, wie der Mann weitere Gäste ankündigte. Erste Be stellungen wurden aufgenommen.
Claire schloss die Augen. Wenn sie das tat und sich konzentrierte, sah sie Johannes weizenblonden Pagenkopf vor sich, den roten Chapeau aus Stroh und das weiße Kleid mit den roten Punkten, das die Freundin so gerne getragen hatte. Johanne war größer gewesen als die meisten Frauen und hatte, wie auch ihr hübscher Bruder Wilhelm, häufig Blicke auf sich gezogen.
Und warum denke ich jetzt an Wilhelm? An ihn hatte sie doch vorerst nicht denken wollen. Nun gut, es hatte Zeiten gegeben, da waren der schöne Will, seine Schwester Jo und sie unzertrennlich gewesen. Sie hatten Ausflüge gemacht, waren gemeinsam auf der Dippemess und im Licht- und Luftbad am Main gewesen. Dort hatte
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