Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
nicht einmal mehr weh. Zum ersten Mal seit Langem dachte er an den Moment ihres Abschieds.
»Ich gehe fort«, hatte er gesagt, die Hände in die Seiten gestemmt, damit sie nicht sah, wie sie zitterten.
Allegra hob eine Augenbraue.
»Ich gehe nach Norden, nach Deutschland«, fügte Gian luca hinzu.
»So?« Allegras Stimme klang träge. »Und was willst du dort?«
»Ich mache mein Glück.« Ich werde Geld verdienen, fügte er in Gedanken hinzu, ich werde so viel Geld verdienen, dass du mich beachten musst . »Und dann werde ich dir die Sterne vom Himmel holen und den Mond dazu.«
Allegra sah ihn verblüfft an, dann lachte sie. Immerhin war das mehr, als die meisten erreichten.
Als Gianluca nun die nächste Kiepe in den Bottich aus leerte, suchten seine Augen erneut nach den Schwestern. Dieses Mal sahen sie ihn beide an.
V iertes Kapitel
»Christoph, du bleibst an deinem Platz!«
Noch bevor die Schwestern das Esszimmer erreicht hat ten, war die Stimme ihres Vaters zu hören. Offenbar stritten Christoph und er sich wieder einmal, denn gleich war eine scharfe Entgegnung des Bruders zu hören. Leiser mischte sich die Stimme der Mutter dazwischen. Etwas rumpelte. Ein Klirren war zu hören. Dann ein Ausruf des Erschreckens.
»Christoph«, schimpfte gleich darauf die Stimme des Vaters. »Du entschuldigst dich sofort bei deiner Mutter.«
Christoph murmelte etwas Unverständliches. Marianne und Helene sahen einander an. Nicht schon wieder, verhieß Mariannes Blick, warum müssen sie immer wieder mit dieser Sache anfangen, wenn sie sich doch nicht einigen können?
»Komm, lass uns gehen«, flüsterte sie Helene zu.
Die schüttelte den Kopf. Jetzt war die Zeit, Christoph zur Seite zu stehen. Auch wenn sie dessen Ansichten nicht teilte, so war er doch ihr Bruder. Sie fühlte sich ihm nahe.
Marianne sah ihre jüngere Schwester verständnislos an.
»Wie du meinst, ich gehe jedenfalls noch einmal hinauf und lese ein wenig. Dieser ständige langweilige Streit ist doch nicht zum Aushalten.«
Helene schwieg. Gestern erst hatten Marianne und sie darüber geredet, auf welche Weise man sich als Weib sein Brot verdienen konnte. Erzieherin, hatte Marianne gesagt, während sie rücklings auf dem Bett liegend an die Decke gestarrt hatte, Gesellschafterin, oder so etwas. Heute schienen sie beide schon wieder nichts gemein zu haben, noch nicht einmal den Wunsch, dem Bruder zur Seite zu stehen.
Helene sah der Schwester hinterher, die schon mit tän zelndem Schritt zur Treppe lief.
Sie beide würden das Weingut jedenfalls nicht erben. Sie würden heiraten oder dem Bruder auf der Tasche liegen, hatte Marianne mit einem schiefen Grinsen bemerkt, und das missfällt mir, aber was sollen wir tun?
Die Stimmen hinter der Küchentür wurden erneut lau ter.
»Ihr müsst doch verstehen, dass sich die Weltläufte ändern, Vater«, war Christophs scharfe junge Stimme zu hören.
»Aber nein, zum Donner!«, brüllte der Vater gleich darauf. »Die bleiben so, wie sie sind, so wie Gott sie eingerichtet hat. Es gibt keine Gleichheit, das ist absurd. Kein Mensch ist dem anderen gleich. Ich habe braune Augen, Mutter hat blaue. Ich bin ein Mann, sie ist ein Weib. Wir sind nicht gleich, und die verdammten Weltläufte, die ändern sich auch nicht!«
»Vater, nicht fluchen!«, war wieder die Stimme der Mut ter zu hören.
»Und wie sie das tun, die Weltläufte ändern sich, da nützt dir auch deine ganze Brüllerei nichts, Vater!«, entgegnete Christoph präzise und gefasst.
Es rumpelte neuerlich, die Mutter schrie erschreckt auf, gleich darauf wurde die Tür aufgerissen, und Christoph stürzte hinaus, die rechte Hand gegen die linke Wange gedrückt, und blieb, seiner kleinen Schwester ansichtig, abrupt stehen. Als er sein Gesicht zeigte, konnte Helene den roten Abdruck einer Hand auf seiner hellen Haut sehen.
»He, Kleines, was schleichst du denn hier herum?«
»Ich schleiche nicht herum«, entgegnete Helene spitz. Offenbar war es keine gute Idee gewesen, dem Bruder beistehen zu wollen. Sie lebte hier. Sie musste gewiss nicht herumschleichen .
»Ach, entschuldige bitte, meine kleine Wildkatze, aber ich habe mich mit Vater gestritten und …«
»Das war nun wirklich nicht zu überhören.«
»Nein?« Spitzbübisch grinste Christoph die Jüngere an.
Noch zögerte Helene, doch dann schluckte sie mühsam den Ärger herunter und hängte sich an seinen Arm.
»Kannst du ihm nicht seinen Glauben lassen? Du musst es ja nicht glauben, aber kannst du
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