Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
verspekuliert hättest, dann … Aber lassen wir das.« Er seufzte tief. »Du meine Güte, Mutter, noch nie im Leben hatte ich mit einem solch einfältigen Weib zu tun. Ich langweile mich noch zu Tode mit dieser Claire, und das nun seit über einem Jahr, aber was tut man nicht alles für die Familie?«
Er suchte Beifall heischend nach dem Blick seiner Mutter, die ihre weißen, knochigen Finger wie kleine Barrieren vor sich auf der dunklen Tischplatte platziert hatte, während der Vater etwas beleidigt dreinschaute.
»Du musst sie ja nur heiraten.« Nora Neuberger lächelte kalt. »Was danach ist, bleibt dir überlassen.«
»Ich weiß, Mutter, ich weiß.«
»Und wann wirst du sie so weit haben?«, mischte sich der Vater ein.
Wilhelm hob die Augenbrauen. »Ich habe sie doch schon so weit. Ich will sie nur noch ein wenig zappeln lassen.« Er grinste.
»Hm, bist du dir sicher?« Nora hob die Augenbrauen. »Ich glaube übrigens, Johanne mag sie sehr. Was, wenn sie Wind von der Sache bekommt?«
»Davon, dass ich Claire heiraten will? Ach Gott, das ahnt sie sicherlich schon, und meine Güte, was sollte sie dagegen haben? Ein wenig Glück wird sie ihrem Bruder ja wohl gönnen.« Er grinste noch breiter. Auch Nora lächelte, konnte aber eine gewisse Besorgnis nicht verbergen.
»Nun, mir wäre es lieber, wir hätten die Sache schon in trockenen Tüchern. Ich traue deiner Schwester nicht. Sie ist so unüberlegt.«
Wilhelm fiel auf, dass sie wieder einmal deine Schwester sagte und nicht meine Tochter, aber Johanne gegenüber hatte Nora niemals mütterliche Gefühle empfunden.
Weiter entfernt klappte plötzlich die schwere Haustür. Stimmen waren zu hören, Johanne und die Haushälterin, Frau Hallhuber. Charakteristisch rasche Schritte näherten sich gleich darauf durch den Flur. Als Johanne eintrat, hatte Nora es sich gerade auf der Chaiselongue bequem gemacht, während Wilhelm an deren Fußende saß und ihr vorlas.
Die Begrüßungen fielen knapp aus. Misstrauisch schaute Johanne vom einen zum anderen, doch Wilhelm sah es ihr an, dass sie beim besten Willen nicht ausmachen konnte, weswegen sich die Familie hier versammelt hatte. Sie wusste nur, dass irgendetwas nicht stimmte, doch das ge nügte nicht. Wilhelm unterdrückte ein Grinsen. Er musste zugeben, dass er Gefallen an der Situation empfand.
D rittes Kapitel
»Claire, mein Schatz, komm einmal zu mir.«
Claire, die wie üblich ihren Platz auf der Fensterbank im kleinen Büro ihres Vaters eingenommen hatte, um die Leute unten auf der Straße zu beobachten, drehte den Kopf. Nicht zum ersten Mal heute erschreckte sie sich ein wenig, als sie Carl Mylius’ blasses Gesicht sah. Er war immer schlank gewesen, doch seit dem Krieg, der ihrer aller Leben verändert hatte, war er hager. Natürlich war sie zu jung, um die Verwandlung selbst bewusst erlebt zu haben, aber sie kannte die Bilder: Nach dem Krieg war er ein anderer gewesen. Wie so viele.
Trotzdem war er für Claire auch heute noch der schönste Mann der Welt mit seinem fein geschnittenen Gesicht, dem hellbraunen, stets ordentlich gescheitelten Haar und dem geschwungenen schmalen Schnurrbart. Seit sie denken konnte, hatte ihr Vater viel Wert auf sein Aussehen gelegt, war stets elegant und modisch gekleidet und duftete nach Eau de Toilette. Sie hätte seinen Duft blind unter vielen heraus erkennen können.
Claires nackte Füße machten leise plopp, als sie auf dem Holzboden aufkam. Ihr Vater lächelte sie an, und trotzdem konnte sie nicht übersehen, dass ihn etwas bedrückte. Er sah müde aus, so als habe er schon Tage nicht mehr ausreichend geschlafen. Nein, er schlief auch nicht mehr gut seit dem Krieg. Zudem bereitete ihm eine alte Verletzung der Lunge immer wieder Schwierigkeiten. Trotzdem stand er noch täglich in seinem Bürowarenhandel, sorgte dafür, dass die Ware ordentlich präsentiert wurde, sprach mit seinem Mitarbeiter. Herr Lohse war geblieben, nachdem sie die anderen hatten entlassen müssen. Die Zeiten waren schlecht, aber nicht zu schlecht für die Familie Mylius. Im bescheidenen Rahmen ging es ihnen immer noch gut. Claire wusste, dass sie dafür dankbar sein musste. Anderswo in der Stadt hungerten die Menschen, lange Schlangen bildeten sich vor Suppenküchen, und manche Frauen, so nannte es ihre Mutter, waren gezwungen, sich zum Schlimmsten zu erniedrigen: zur Prostitution.
Sie stand nun unschlüssig vor ihrem Vater. Die Tage, an denen sie sich einfach auf seinen Schoß gesetzt und mit den
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