Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Er vermutete, in die Richtung von Mainz.
Aus ihren Gesprächen am abendlichen Lagerfeuer erfuhr er mehr über den Verlauf des Kriegs. In Mainz standen sich mittlerweile 32000 Soldaten der Ersten Koalition, überwiegend Preußen, sowie 12000 Österreicher und 23000 Franzosen gegenüber. General Custines Posten hatte ein gewisser d’Oyré übernommen.
Er hatte die Möglichkeit einer Flucht schon fast aufgegeben, als sich die Gelegenheit eines Tages doch ergab.
Und nun saß er hier, gefangen in einem Verschlag, und dieses Mal waren die Deutschen vor der Tür.
Nach kurzem Überlegen legte Gianluca sich auf den Bauch und robbte zu dem etwas breiteren Spalt, durch den das meiste Licht fiel. Helles Morgenlicht, er musste geschlafen haben wie ein Stein.
Vor seinem Versteck hatte sich ein Sprengel preußischer Soldaten versammelt, wie Gianluca an den Uniformen erkannte. Sie mussten nach einem schnellen Ritt eben eingetroffen sein. Die Pferde waren verschwitzt. Ihr Anführer saß noch im Sattel, ein paar schwärmten aus und sicherten die Gegend. Wahrscheinlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sie auch den Verschlag durchsuchten.
Hastig blickte Gianluca sich um, aber hier drinnen fand sich nichts, was als Versteck hätte dienen können. Seine Unterkunft war, bis auf ein paar alte Gerätschaften und einen mageren Stapel Brennholz, leer. Als sich also die Tür öffnete, blieb er einfach ergeben stehen. Vom Regen in die Traufe. Von der Traufe in den Regen.
Man zerrte ihn vor den Anführer. Gianluca überfiel eine Mischung aus Angst und Resignation. Der Mann, sorgfältig gekleidet in seiner Hauptmannsuniform, das Haar in einen ordentlichen Zopf gebunden, musterte ihn misstrauisch.
»Espion?«, fragte er auf Französisch.
»Ich verstehe Deutsch«, entgegnete Gianluca müde.
»Ist er ein Spion?«
»Nein«, antwortete Gianluca und wusste doch, dass ihm diese Antwort rein gar nichts bringen würde.
V iertes Kapitel
Am folgenden Tag schlug Helene den Eltern vor, dass Marianne und sie sich im Gartenhaus zurückziehen könnten, bis das Kind kam. Vielleicht würde es gar kein Gerede geben, wenn sie beide weniger häufig zu sehen waren. Man konnte auch sagen, sie seien zu Besuch bei Verwandten, jetzt, nachdem man die Franzosen doch glücklich verjagt habe. Die Eltern zögerten zuerst, stimmten dann jedoch zu. Marianne musste versprechen, das Gartenhaus und seine nächste Umgebung nicht zu verlassen. Sie tat es, ohne zu zögern. Helene, die erst unsicher ob ihres Vorschlags gewesen war, freute sich bald auf die ungestörte Zeit mit der Schwester. Vielleicht, dachte sie, würde es dann ein wenig werden wie früher. Zwar waren sie einander nie so nahe gewesen wie Marianne und Christoph, doch sie würden viel Zeit für sich haben. Mimi und Lele, Lele und Mimi – immerhin waren sie Schwestern.
Am Morgen ihres Umzugs ging Helene voraus, lief ins Haus und öffnete alle Türen und Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Das Haus war deutlich größer, als man das bei der Bezeichnung Gartenhäuschen erwarten konnte. In Wirklichkeit handelte es sich ja auch um ein altes Wohnhaus. Marianne und sie hatten noch im Haus der Eltern kichernd beschlossen, sich eine der oberen klei nen Schlafkammern zu teilen. Sie hatten die Nächte noch nie in getrennten Zimmern verbracht, und sicherlich würden sie sich einiges zu erzählen haben.
Es wird wie früher sein, dachte Helene nicht zum ersten Mal, wir werden plaudern und Süßes naschen und zu spät einschlafen. Bei dem Gedanken fühlte sie sich fast unbeschwert.
Als Marianne am Nachmittag mit dem Wagen und dem Großteil der Sachen kam, ging Helene der Schwester lächelnd entgegen. Kurzatmig stieg die Ältere vom Wagen herunter – sie musste mittlerweile etwa den achten Monat erreicht haben – und stützte die Hände in den Rücken. Prüfend ließ sie den Blick über das kleine, weiß getünchte Häuschen wandern, bis hin zu dem Schornstein, aus dem bereits Rauchwolken traten. Helene hatte eine Bank nach draußen in die Sonne geschleppt und einen Tisch dazu. Sie hatte Frühlingsblumen gepflückt und sie in eine Vase gestellt.
»Wie hübsch«, rief Marianne aus, »hast du das für uns gemacht?«
Helene nickte.
»Es wird uns hier gut gehen«, sagte sie.
»Ja, das wird es«, entgegnete Marianne langsam. Dann runzelte sie die Stirn. Der Himmel über ihnen war strahlend blau, die Sonne schien warm, und doch blickte Marianne mit einem Mal ängstlich drein und hielt sich dann den Bauch mit
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