Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
beiden Händen.
»Ich habe Angst«, sagte sie unvermittelt und schaute die Schwester an. »Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich wirklich Angst. Ich habe Angst davor, dieses Kind zu kriegen. Ich habe Angst, ich könnte sterben und es ohne Schutz zurücklassen. Ich weiß ja, dass es nicht willkommen ist auf dieser Welt.«
»Ich werde Hilfe holen, wenn es so weit ist.« Helene streichelte Mariannes Arm. »Und ich werde nicht von deiner Seite weichen.«
Marianne musste lachen. »Und wie soll das gehen, wenn du Hilfe holst?« Sie reckte sich und ging dann weiter auf das Haus zu. Im Flur, als sie beide eingetreten waren, drehte sie sich zu ihrer Schwester um. »Ich bin froh, dass du hier bist, Lele«, sagte sie und lächelte.
Es waren schöne Tage gemeinsam, und Helene war froh, der bedrohlichen Welt da draußen ein Stück weit entkommen zu sein. In Mainz hatte sich der »Rheinisch-Deutsche Nationa1konvent«, kaum konstituiert, quasi wieder aufgelöst. Die Koalitionstruppen zogen ihren Ring um die Stadt enger und enger, und von Christoph war seit Beginn der Belagerung nichts mehr zu hören gewesen.
Helene und Marianne mieden es, sich um den Bruder zu sorgen, stattdessen sprachen sie über die gemeinsame Kindheit, über Spiele an der Mühle, dem Weinberghäuschen und an anderen Orten, erinnerten sich an Streiche, die sie ausgeheckt hatten.
Mariannes Schwangerschaft schritt derweil ruhig und ohne Beschwerden voran.
»Meinst du, dass das Kind Gianluca ähnlich sehen wird?«, fragte die Ältere eines Abends unvermittelt in die Stille hinein. Sie erwähnte den Italiener zum ersten Mal seit langen Wochen. Als Helene im Nähen innehielt und den Kopf hob, ließ ein unmerklicher Lufthauch die Kerze in dem Kerzenständer auf dem Küchentisch flackern.
»Bestimmt«, antwortete sie.
»Sie wird auf jeden Fall wunderschön werden«, sprach Marianne nachdenklich weiter und hielt das kleine Hemdchen gegen das Licht, an dem sie selbst gerade nähte. Mit zitternden Fingern überprüfte Helene sorgfältig den Ärmel ihres eigenen Babykittelchens.
»Woher weißt du, dass es ein Mädchen wird?«
Marianne sah vorübergehend nachdenklich aus.
»Woher?« Sie sah in die Ferne und seufzte dann leise. »Ich weiß es einfach. Ich kann nicht sagen, warum. Ich weiß es.«
F ünftes Kapitel
Nachdem Gianlucas Name gefallen war, sprachen die Schwestern wieder öfter über ihn. Sie taten es vorsichtig, behutsam gar, um die andere nicht zu verletzen.
Nur einmal sagte Marianne: »Ich vermisse ihn«, und Helene fand die Kraft, die Ältere in den Arm zu nehmen.
Er gehört uns ja beiden nicht mehr, sagte sie sich im Stillen, damit kann ich leben, weiß Gott, damit kann ich leben. Und ich will auch gar nicht, dass er zurückkommt.
Gegen Ende der Schwangerschaft rundete sich Mariannes Leib sehr viel rascher als vorher, trotzdem ging die Schwester immer noch beinahe leichtfüßig die steile Treppe hinauf und hinunter. Sie war viel in Bewegung, und doch setzte sie sich jetzt häufiger als sonst auf die Bank im Hof und hielt das Gesicht in die frühe Sommersonne. Sie war sanfter geworden, als Helene das von ihr gewohnt war, strahlte eine stille, innere Ruhe aus.
Irgendwann im Juni – die Magd, die ihnen das Essen brachte, berichtete davon, dass Mainz am Tag zuvor erstmals bombardiert worden sei, und die Schwestern sorgten sich nun sehr um den Bruder – machte Helene sich wieder einmal auf den Weg zu den Eltern.
Emmeline stand im Hof, als sie eintraf, der Vater hatte sich in den Weinkeller zurückgezogen. Vorsichtig stieg Helene bald die feuchten Stufen hinunter, fand ihn, eine Kerze an der Seite, neben dem größten Fass sitzend. Zu bestimmten Zeiten war man gehalten, stets eine Kerze mit sich zu nehmen. Verlosch das Licht, hatten die Gärungsgase überhandgenommen und man musste schnell den Weg nach draußen suchen, wollte man nicht ersticken.
»Mutter hat mir gesagt, dass du hier bist«, sagte Helene nach einer Weile.
Valentin hob den Kopf und spähte an ihrer Schulter vorbei zur Treppe.
»Ist sie auch da?«
»Nein.«
»Gut, ich will sie nicht sehen, daran hat sich nichts geändert.«
»Willst du ihr nicht vergeben?«
Zart, mit zwei Fingerspitzen berührte der Vater den Pfropfen in dem Fass rechter Hand, bevor er den Kopf schüttelte.
»Wenn die Sache vergessen ist, dann vielleicht …«
Er machte nun keine Anstalten mehr, etwas zu sagen. Vielleicht dachte er an die Tochter, die ihm zuwidergehandelt hatte, vielleicht auch an den
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