Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Sohn. Es hieß, die Belagerer trieben ihre Geschützgräben näher auf die Festung zu.
Aber ich bin noch hier, Vater, dachte Helene, ich bin dein gutes Kind.
Da ihr langsam kalt wurde, schlang sie die Arme um den Oberkörper.
»Wie wird die Ernte dieses Jahr?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
Valentin zuckte die Achseln, stand dann unvermittelt auf und umarmte seine Jüngste so heftig, dass Helene vorübergehend die Luft wegblieb. Gleichzeitig bemühte sie sich, die Umarmung zuzulassen. Da war etwas Verzweifeltes an ihm, etwas, was ihr sagte, dass sie stehen bleiben musste, dass er sie brauchte.
Ich sollte mich darüber freuen, dachte sie, ich habe mich immer so sehr danach gesehnt, gebraucht zu werden.
»Ach, ich vermisse dich, Herzchen«, flüsterte er in ihr Haar.
»Ich vermisse dich auch, Vater«, murmelte sie. Sonst hatte sie sich oft gewünscht, der Vater möge sie neben Marianne oder Christoph bemerken. Jetzt fühlte es sich falsch an.
An diesem Tag ließ Helene sich Zeit mit dem Nachhauseweg. Es gab viel zu bedenken, viel zu überlegen. Sie machte einen weiten Umweg um Bonnheim herum, wählte den Weg an den Weinbergen entlang und traf ein, als es schon dämmerte. Oben am geöffneten Fenster konnte sie Marianne stehen sehen. Sie hob die Hand und winkte der Schwester zu. Die winkte zurück.
»Die Eltern hoffen darauf, dass dein Fehltritt vergessen wird«, sagte Helene, als sie wenig später an der Seite der Älteren stand und ebenfalls durch das geöffnete Fenster in den Hof hinunterblickte. Im Westen bewegte sich die Sonne auf den Horizont zu. Marianne hielt ein kleines Büchlein in den Händen, aber sie las nicht.
»Meinst du, sie wird ihren Vater je kennenlernen?«, fragte sie nachdenklich.
Helene legte ihrer Schwester leicht eine Hand auf die Schulter und neigte sich dann zu ihr, sodass ihr Mund knapp neben ihrem Ohr war.
»Bestimmt«, flüsterte sie.
Aber sie wusste, dass es unmöglich war. Es musste unmöglich sein, es durfte nicht sein. Sie war froh darum, dass sie beide nichts mehr von Gianluca gehört hatten, auch wenn es sie gleichzeitig schmerzte. Sie wusste nicht, wo er war, und sie sagte sich, dass sie es auch nicht wissen wollte. Es war gut, dass er aus ihrem Leben verschwunden war. Für kurze Zeit hatte er es heller werden lassen, aber wo Licht war, war auch Schatten. Zu viel Schatten.
Mit einem kleinen Seufzer lehnte Marianne den Kopf gegen Helene. Draußen ging ein funkelnder Junitag zu Ende.
»Ich habe dich heute vermisst«, sagte sie dann. »Ich weiß gar nicht, wie ich es so lange ohne dich ausgehalten habe. Wir dürfen uns nie wieder streiten, hörst du? Nie wieder!«
Helene wusste nicht, warum, aber plötzlich schauderte es sie.
Höchstens zwei Wochen später verzichtete Marianne auf längere Spaziergänge. In der ersten Zeit hatte es sie zuweilen noch zu dem Weinberghäuschen und zu anderen Orten hingetrieben, die sie mit Gianluca geteilt hatte, doch diese Wege waren nun zu beschwerlich. Außerdem hatte sie im Verlaufe der letzten Woche einen Schwächeanfall erlitten. Dr. Kamenz hatte ihr dringend Ruhe aufgetragen. Helene war ein Stein vom Herzen gefallen, als der alte Doktor und sie den Hof erreicht hatten und endlich beide neben dem Bett standen, in dem Marianne gerade wieder zu Kräften kam.
Marianne und sie kannten den alten Kamenz schon seit ihrer Kindheit. Der Anblick seiner Perücke, die immer ein wenig schief auf seinem Kopf saß, und sein freundliches Lächeln waren ihnen so wohlvertraut, dass es sich gut anfühlte.
Ruhig setzte sich der alte Arzt an Mariannes Seite.
»Heb dir die Kraft auf, mein liebes Mädchen«, sagte er, »heb sie dir für die Geburt auf. Du willst doch sicher nicht, dass das Kleine zu früh kommt!«, hatte er dann noch hinzugefügt.
Und Marianne, die sonst kaum je auf jemanden hörte, zeigte sich einsichtig. Für ihr Kind wollte sie nur das Beste. Keinesfalls sollte es Schaden nehmen. Also blieb sie zu Hause und schonte sich. Bedeutsame Nachrichten kamen dieser Tage aus Mainz. Nach drei Monaten Belagerung stand die Kapitulation kurz bevor.
S echstes Kapitel
Ende. Aus und vorbei. Christoph musste ein Zittern unterdrücken. Schon Ende Juni hatten erste Gerüchte um eine mögliche Kapitulation der Franzosen für Unruhe unter den Mainzer Jakobinern gesorgt. In der Stadt hatte sich die Lage unterdessen aufgrund des heftigen Bombardements von Tag zu Tag verschlechtert.
Nun war es also besiegelt. Der Vertrag bestimmte, berichtete ihm
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