Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Hauptmann Chevillon, den Christoph in seiner Not aufgesucht hatte, dass die Franzosen dem preußischen König die Stadt Mainz und Kastel mit allen Festungswerken und den dazugehörigen Posten in ihrem natürlichen Zustand, nebst allem sowohl französischen als fremden Geschütz und dem Munitions- und Mundvorrat, übergaben. Dafür durfte die französische Garnison mit allen kriegerischen Ehrenzeichen, Waffen und Gepäck abziehen. Für ein Jahr ausdrücklich untersagt wurde der Einsatz der »Mayen ç ais« gegen die Alliierten. Die während der Kampfhandlungen übergelaufenen Deutschen wurden ohne Ausnahme ausgeliefert.
»Wann wirst du gehen?«, hatte Christoph Chevillon gefragt.
»Wenn meine Zeit gekommen ist«, hatte der geantwortet, »wenn meine Männer abziehen. Für sie bin ich ver antwortlich. Und du, Freund?« Er hatte Christoph fragend angeblickt.
Für einen Moment wurde Christoph die Kehle zu eng zum Atmen. Er tastete nach seinem Hemdkragen, riss und rüttelte daran und sog dann keuchend Luft ein.
Ja, und ich, durchfuhr es ihn, und ich?
R ache
Christoph rannte. Als er gehört hatte, wie unten die Tür aufgebrochen wurde, war er sofort die Treppenstufen ganz nach oben gesprungen, hatte sich endlich von einem Fenster aus auf das Dach gerettet, war dort auf Händen und Füßen mit wild klopfendem Herzen entlanggeschlittert, bis es ihm an irgendeiner Stelle gelang, wieder festen Boden zu erreichen.
Seit Mainz eingenommen war, brodelte es in der Stadt, Geschrei war allenthalben zu hören. Die Jagd hatte begonnen. Hier und da hatte Christoph bereits einen befreundeten Demokraten bemerkt, den man an Kleidung und Haaren hinter sich her zerrte oder sofort verprügelte, und er hoffte, nein, er betete zu Gott, dass man ihn nicht ebenfalls erkannte oder verriet.
Rette sich, hieß es nun, rette sich, wer kann! Die neue Welt brach zusammen und ließ Einzelne zurück, die nur noch um ihr eigenes elendes Leben kämpften. Er war nicht besser als sie, nein, er war nicht besser. Er hatte schreckliche Angst.
Tags zuvor war es offenbar noch mehreren Jakobinern gelungen, als französische Soldaten verkleidet oder im Gepäck der Armeewagen versteckt mit den ersten Teilen der Garnison zu entkommen. Nun aber, so hieß es, hielten beiderseits der Straße nach Kaiserslautern liegende Mainzer jeden Wagen an und durchsuchten ihn nach den sogenannten Klubisten. Gerüchteweise hatte man den Präsidenten des zweiten Klubs und Vizepräsidenten des Konvents, Mathias Metternich, an den Haaren aus der Kutsche der Konventskommissare herausgezogen, geschlagen, ausgeplündert und schließlich in Eisen und Banden abgeführt.
Christoph schauderte. Eben ließ er das Tor hinter sich, als der Wagen, in dessen Schatten er lief, mit Gebrüll angehalten wurde. Noch bevor er sich versah, wurde der Wagenverschlag aufgerissen. Geschrei brandete auf, und unter höhnischem Hallo zog man jemanden an den Füßen zuerst heraus.
Böhmer. Christoph erkannte den Mann sofort. Das war Georg Wilhelm Böhmer, der Redakteur der Mainzer Zeitung . Sie hatten schon miteinander geredet, hatten auch miteinander diskutiert, angeregt, glücklich, und mehr als einmal auf die neuen Zeiten angestoßen. Sie hatten … Sie waren … Freunde …
Doch heute gab es keine Freunde mehr, heute konnte nur jeder seine Haut retten.
Als Böhmers Blick auf ihn fiel, wich Christoph ihm aus.
Ich kenne dich nicht, um Gottes willen, verrate mich nicht, flehte er bei sich. Bevor Böhmer etwas sagen konnte, wurde der Zeitungsredakteur blitzschnell und brutal nach hinten gerissen. Falls er etwas hatte sagen wollen, so wurden ihm die Worte mit einem derben Schlag von den Lippen geprügelt.
Einer der Häscher stieß den Wagenverschlag, durch den eben noch ein ängstliches Frauengesicht spähte, mit großem Hallo zu.
»Der wollte mit einem Franzosenweib entkommen«, rief ein anderer lachend Christoph zu.
Der stimmte blechern ein, doch offenbar fiel das niemandem auf.
»Glückliche Reise«, rief eben ein dritter Mann und ließ die flache Hand auf die Kruppe eines der Zugpferde klatschen, worauf sich der Wagen in Bewegung setzte. Böhmer hatte man mittlerweile auf den nächsten Acker geschleppt. Christoph sah, wie wieder einer der Männer zuschlug, wie Böhmer ins Taumeln geriet, hochgerissen wurde, wie ihn ein weiterer Schlag in den Dreck warf und ihn schon im nächsten Moment ein brutaler Tritt nach hinten schleuderte. Noch einmal sah Böhmers blutverschmiertes, zerschundenes Gesicht
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