Die verlorene Koenigin
Feind. Erkennst du die anderen Vorzeichen?«
»Welche anderen Vorzeichen?«
»Ach, nichts!«, rief Zara leichthin und trat von hinten an Tania heran. »Den ganzen Tag schon wird Eden von düsteren Ahnungen geplagt und sagt grauenhafte Ereignisse voraus, aber bisher irrte sie!« Sie breitete lächelnd die Arme aus. »Wir sind noch immer hier, keinem von uns ist ein Leid geschehen.« Sie zeigte mit ihrem schmalen Finger auf Eden. »Du brütest zu viel über dunklen Gedanken, Weiße Malkin! Du wirst dich noch zu Tode hungern, vor lauter Sorge!«
»Die Tiere spüren das kommende Verhängnis ebenfalls«, sagte Cordelia. »Als stünde ein Gewitter bevor.«
»Dann wäre es das Beste, wir trügen wagenradgroße Hüte, damit der Regen nicht auf unsere bloßen Köpfe herniederprasselt und uns Kopfweh beschert!«, scherzte Zara ausgelasssen.
Cordelia schüttelte den Kopf. »Weder Hut noch Übermantel können uns vor solchen Unwettern schützen.«
»Ich spüre nichts«, sagte Hopie und blickte von Cordelia zu Eden. »Woher kommt das Grauen?«
»Denkt doch daran, was die Meeresschildkröte Cordelia anvertraut hat«, sprach Sancha. »Ein Licht ist erschienen in der alten Festung Bale Fole. Lyonesse erwacht aus langem Schlaf. Ich fürchte, Lady Lamia ist zurüc k – und ich glaube, die Gefahr kommt mit dem Wind aus Südost.«
»Das ist unmöglich«, sagte Hopie. »Der König von Lyonesse liegt eingeschlossen in Bernstein im Verlies zu unseren Füßen. Ohne seine Hexenkünste vermag Königin Lamia uns nichts anzuhaben.«
»Das ist wohl wahr«, pflichtete Eden ihr bei. »Aber ich glaube nicht, dass der Wind das Unheil herbeiträgt. Es ist ganz nah.« Sie runzelte die Stirn. »Ich mühe mich, die Quelle des Unheils zu finden, doch sie entzieht sich mir.«
»Weil es nichts zu finden gibt«, erwiderte Zara. »Kommt, was ist das für ein trauriger Empfang, den wir unserer lieben Schwester bereiten? Ich spiele jetzt rasch eine heitere Melodie auf dem Spinett und dann sprechen wir nicht mehr über böse Omen!«
Sie hob zu singen an:
Wir kennen kein Ende
noch schweben wir je herab.
Dieser Traum wird ewig währen,
die Sonne immer am Himmel stehn.
Wir tanzen in der Nacht
bei flackerndem Feuerschein.
Dieser Traum wird ewig währen,
der Mond immer am Himmel stehn.
Auch wenn die Blätter fallen,
die Echos leise verhallen:
Dieser Traum wird ewig währen,
das Sternenzelt immer am Himmel stehn.
Sancha hakte Tania unter und zog sie mit sich zum Sofa. Die übrigen Schwestern versammelten sich um sie. Hopie setzte sich auf die eine Seite, Cordelia auf die andere und Sancha auf einen Hocker zu ihren Füßen. Eden stellte sich hinter das Sofa und warf hin und wieder einen Blick aus dem Fenster, als erwarte sie, etwas Finsteres am Nachthimmel zu sehen.
»Du erwähntest einen unschönen Streit mit deinen sterblichen Eltern«, sagte Sancha zu Tania. »Erzähl uns von deinen Schwierigkeiten. Geteiltes Leid ist halbes Leid.«
»Meine Mum und mein Dad haben mir verboten, Edric zu sehen«, erklärte Tania. »Sie glauben, er sei schuld daran, dass ich neulich verschwunden bi n … als ich hier bei euch war, meine ich.« Sie blickte in Sanchas intelligente Augen. Die Gegenwart ihrer Schwestern tröstete sie. »Ich konnte ihnen nicht erzählen, was wirklich passiert ist, aber so langsam glaube ich, dass ich es tun sollte.«
Hopie tätschelte ihr die Knie. »Ich bereite dir einen Trank aus Myrte und Frauenminze«, sagte sie. »Er wird dich beruhigen und deinen Kummer lindern.« Sie stand auf und ging zu einem Schubladenschränkchen aus dunklem Holz.
Zara setzte sich auf Hopies Platz neben Tania.
»Soll ich ihnen die Wahrheit sagen?«, fragte Tania.
»Aus welchem Grund?«, fragte Sancha. »Um dein Herz zu erleichtern oder ihres?«
Tania runzelte die Stirn. Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. »Um mein Leben zu vereinfachen, glaube ich«, sagte sie schließlich. »Im Moment halten sie mich bloß für ein dummes Ding, das in einen Jungen aus der Schule verknallt ist. Und solange sie das denken, meinen sie, es reicht, mich von Edric fernzuhalten, damit ich über ihn hinwegkomme. Aber was passiert, wenn ich ihnen die Wahrheit sage?« Sie schüttelte den Kopf. »Dann wird nichts mehr so sein wie früher. Wenn sie erst mal alles wissen, gibt es kein Zurüc k – wenn sie mir überhaupt glauben.«
Hopie beugte sich über sie, eine braune Tontasse in der Hand. »Wird die Wahrheit sie schmerzen?«, fragte sie, als Tania ihr die Tasse
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