Die verlorene Koenigin
der Lage sein, zwischen den beiden Welten zu wähle n – wie kann ich mich für den einen Teil meines Wesens entscheiden, den anderen jedoch für immer aufgeben? , dachte sie, als sie mit Sancha in einem Ponywagen, an dem Silberglöckchen klingelten, durch die nächtliche mondbeschienene Landschaft fuhr.
Bald hatten sie die Espenbäume erreicht, Sancha schnalzte mit den Zügeln, und der Wagen kam bimmelnd zum Stehen.
»Vielen Dank fürs Chauffieren«, sagte Tania. »Ich fand den Hirsch zwar beeindruckend, den Ritt aber reichlich unbequem.« Sie kletterte hinunter.
»Dein Kopf ist voller Sorgen«, bemerkte Sancha. »Doch denk immer daran: Selbst in der Welt der Sterblichen bist du noch Prinzessin Tania aus dem Elfenreich.« Ihre dunklen Augen blitzten. »Benimm dich entsprechend!«
Tania lächelte sie an. »Ich werde es versuchen«, versprach sie.
»Leb wohl, liebe Schwester«, rief Sancha ihr zu, als sie die Zügel aufnahm und das Pony antraben ließ. »Mögen die Engel der Barmherzigkeit dich beschützen, bis wir uns wiedersehen.«
»Danke«, rief Tania und winkte dem kleinen Wagen hinterher, der zwischen den Bäumen davonfuhr.
In ihrem Zimmer war es dunkel und still. Sie blieb einen Augenblick mitten im Raum stehen, genau dort wo sie angekommen war, und lauschte. Sie hörte gedämpft den Fernseher im Erdgeschoss. Sie warf einen Blick auf den Wecker neben ihrem Bett. Es war Viertel nach elf. Sie war also eine gute Stunde im Elfenreich gewesen.
Sie öffnete die Zimmertür und fühlte sich erstaunlich ruhig. Als sie die Treppe hinunterging, stellte sie ihre Armbanduhr wieder richtig und drehte die Zeiger vor, um die verlorene Zeit in der Menschenwelt auszugleichen.
Sanchas Abschiedsworte hallten noch in ihr nach.
Du bist Prinzessin Tania aus dem Elfenreich. Benimm dich entsprechend!
Die weise Sancha hatte Recht. Tania konnte nicht schmollen, schreien, mit den Füßen aufstampfen und dann erwarten, wie eine Erwachsene behandelt zu werden. Wenn sie die Angelegenheit mit ihren Eltern bereinigen wollte, musste sie sich entsprechend benehmen. Sie musste sich mit ihnen zusammensetzen und sachlich und ohne Groll über ihre Probleme sprechen.
Sie öffnete die Wohnzimmertür.
Wie immer saß Dad in seinem Sessel, Mum auf dem Sofa, unter einer Decke. Als Tania ins Zimmer trat, blickten die beiden sie abwartend an.
»Können wir kurz reden?«, bat Tania.
»Natürlich«, sagte ihre Mutter. Ihr Vater griff nach der Fernbedienung und schaltete den Ton aus.
Tania holte tief Luft. »Es tut mir leid, wie ich mich vorhin benommen habe«, begann sie. »Ich weiß, dass ihr nur mein Bestes wollt, und ich verstehe auch gut, dass ihr euch Sorgen macht wege n … wegen Evan. Wirklich. Mir ist auch bewusst, dass ich vor Kurzem Dinge getan habe, die euer Vertrauen in mich ziemlich angekratzt haben. Ich will euch beweisen, dass ihr mir vertrauen könnt; ich würde euch so was niemals wieder antun: einfach zu verschwinden. Doch es gibt da etwas, das ihr auch verstehen solltet. Evan bedeutet mir sehr viel und außerdem trägt er keine Schuld an dem, was ich getan habe.«
»Ich glaube nich t …«, setzte ihre Mutter an.
»Mary! Lass sie ausreden«, sagte ihr Vater.
»Ich will die Ferien mit Evan verbringen«, sagte Tania. »Ich möchte so gern, dass ihr eure Meinung über ihn ändert. Ich bin ihm sehr wichtig, und ihr bestraft ihn für etwas, das er nicht getan hat. Gebt mir die Chance, euer Vertrauen zurückzugewinnen. Lasst mich mit Evan zusammen sei n – traut uns zu, dass wir uns verantwortungsbewusst verhalten.« Sie hielt inne und alle drei schwiegen. Dann lächelte sie und breitete die Hände aus. »Das war’s. Ich bin fertig.«
Ihre Mutter musterte sie forschend. »So viel bedeutet er dir?«
»Ja.«
»Die erste Liebe ist immer sehr intensiv«, sagte ihre Mutter. »Aber sie ist selten von Dauer. Das ist dir doch klar?«
Tania nickte. Sie hätte ihren Eltern gern erzählt, dass die Liebe zwischen Edric und ihr etwas ganz Besonderes wa r – unzerbrechlic h –, aber sie nahm sich zusammen. Bestimmt erzählten Millionen von Teenagern auf der ganzen Welt ihren Eltern, dass ihre Liebe etwas Besonderes wa r – und ebenso oft waren sie im Irrtum. Wie konnte Tania ihren Eltern beweisen, dass und warum die Beziehung zwischen ihr und Edric außergewöhnlich war?
»Wenn wir dich wie eine Erwachsene behandeln sollen, dann musst du dich auch so benehmen«, fuhr ihre Mutter fort. »Wir wollen, dass du auch noch andere Dinge
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