Die verlorene Koenigin
abnahm.
»Was, dass ich in Wirklichkeit eine Elfenprinzessin mit einer anderen Familie bin? Das glaube ich schon«, meinte Tania.
»Trink«, forderte Hopie sie eindringlich auf. »Die Wirkung des Tees lässt rasch nach.«
Tania schaute in die Tasse. Die Flüssigkeit wirbelte darin herum, als würde sie von einem unsichtbaren Löffel umgerührt. Sie war tiefblau und schmeckte wie kalte, klare Bergluft. Sternenlicht schien durch Tanias Kehle zu rinnen, weder warm noch kalt, weder süß noch bitter, aber während ihr der Dampf in die Nase stieg und sich in ihren Atemwegen verteilte, spürte sie, wie Gelassenheit sie durchströmte.
»Vermagst du die Wahrheit für alle Zeit vor ihnen zu verbergen?«, fragte Sancha.
»Ich könnte es versuchen«, sagte Tania und reichte Hopie die leere Tasse. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich es ihnen beibringen sollte. Hey, Mum, Dad, wisst ihr was? Ich führe ein Doppelleben in einer Parallelwel t – ich habe eine Zweitmutter und einen Zweitvater und jede Menge Schwestern. Was sagt ihr dazu?«
»Was, wenn du unsere Mutter wiedergefunden hast und in unsere Mitte zurückkehrst, um in der Elfenwelt zu leben? Wirst du deine alte Welt verlassen, ohne deinen Menscheneltern den Grund zu sagen?«, erkundigte sich Cordelia.
Tania verschlug es für einen Moment die Sprache. Ihr war nie in den Sinn gekommen, dass ihre Schwestern selbstverständlich annahmen, dass sie für immer im Elfenreich leben wollte.
»Darüber habe ich ehrlich gesagt noch nicht richtig nachgedacht«, meinte sie. »Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.«
»Es wäre nicht recht, sie einfach so zu verlassen«, meinte Zara. »Du musst ihnen die ganze Wahrheit sagen, bevor du gehst, ganz gleich, wie schwierig es für dich sein mag, sie auszusprechen, oder für deine Eltern, sie zu hören.«
Sancha ergriff Tanias Hand. »Du hast den wahren Kummer unserer Schwester nicht erkannt, Zara«, sagte sie sanft. »Sie weiß, dass sie sich für eine der beiden Welten entscheiden muss. Das ist es, was sie quält, nicht der Umstand, dass sie ihre Eltern einweihen muss.«
Tania spürte, wie Edens feingliedrige, schlanke Hände auf ihren Schultern ruhten. »Sancha ist sehr weise in derlei Herzensangelegenheiten«, murmelte Eden, beugte sich über Tania und küsste sie aufs Haar. »Unsere liebe Schwester ist nicht als dasselbe Mädchen zu uns zurückgekehrt, das vor Jahrhunderten verschwand. Ihre Seele hat in der Zwischenzeit mehr als sechzig verschiedene Leben gelebt.«
Tania bog den Kopf zurück und sah Eden an. »So viele?«
»Oh ja. Denn der Mensch, der Anita Palmer genannt wird, ist bereits die dreiundsechzigste Reinkarnation deiner Elfenseele«, sagte Eden. »Reste dieser vergangenen Leben sind noch in di r – ich kann sie spüren. Jeder Mensch, in dem deine Seele einmal gewohnt hat, hat sie geprägt.«
»Was heißt das genau?«
»Das heißt, meine Liebe, dass du für alle Ewigkeit halb Elfe und halb Mensch sein wirst«, sagte Eden. »Und in eben diesem Dilemma liegt die Qual deiner Wahl.«
Zara fasste mit beiden Händen nach Tanias Arm. »Nein! Nein!«, rief sie. »Tania ist unsere Schweste r – sie gehört hierher zu uns!« Sie starrte zu Eden hoch, wild und erschrocken. »Denkst du tatsächlich, sie wünscht sich, in der Welt der Sterblichen zu bleiben?«
»Das wäre eine schwerwiegende Entscheidung«, erwiderte Sancha. »Es gibt einen alten Reim, eine Vorhersage des blinden Dichters Draco Sinistre von Talebolion:
Die Elfenseele lebt im Menschenkind
und strahlt zu hel l – ihr Leib ist todgeweiht.
Doch harrt sie länger aus als sechzehn Jahr’,
so muss sie wählen: Freud oder Leid.
Wenn Elfenherz sich selbst erkennt,
von Neuem wird es dann geboren.
Doch bleibt es in der Welt der Sterblichen,
so ist ihr Erbe ganz verloren.
Bedrückte Stille folgte Sanchas Worten. Tania blickte in die Runde und las Angst, Furcht und Mitgefühl in den Gesichtern ihrer Schwestern. »Ich muss also wählen? Ich muss mich entscheiden, ob ich hier oder in der Welt der Sterblichen leben möchte?«
»Wenn ich den Text richtig interpretiert habe, dann ist dem so«, sagte Sancha.
»Aber meine Gabe ist doch die Fähigkeit, mich zwischen den Welten zu bewegen«, gab Tania zu bedenken. »Warum muss ich mich dann für eine entscheiden?«
»Du vermagst zwar zwischen den Welten hin- und herzureisen«, sagte Eden. »Doch du kannst nur ein Zuhause haben, und dein Herz wird dir helfen, es zu erkennen.«
»Wie schnell muss ich mich
Weitere Kostenlose Bücher