Die verlorene Koenigin
entscheiden?«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis«, gab Sancha zu.
»Aber es könnte schon bald sein, nicht wahr?«, fragte Cordelia. »Unzählige Gefahren lauern in der Welt der Sterblichen, und wenn Tania dort stirbt, wird sie diesmal nicht wiedergeboren werden. Ist das nicht die wahre Bedeutung der alten Verse?«
Sancha nickte.
»Habe keine Angst, meine Liebe«, beteuerte Eden und beugte sich wieder über Tania. »Anita Palmers Seele ist willensstark, sonst wäre ihr Menschenleben längst vorbei. Im Moment herrscht Verwirrung in deiner Seele, aber die Zeit wird dir Klarheit schenken.«
»Vielleicht aber auch nicht«, antwortete Tania bedrückt.
»Erwägst du ernsthaft, in der Welt der Sterblichen zu leben?«, fragte Zara mit großen Augen.
Tania blickte sie eine Weile wortlos an. »Ich liebe meine Mum und meinen Dad.«
Zara legte den Kopf auf die Seite. »Aber deine Eltern werden irgendwann sterben, Tania. Was dann?«
»So weit habe ich noch nicht gedacht.«
»Abe r …«
»Bedräng sie nicht, Zara«, mahnte Hopie. »Mit deiner endlosen Fragerei würdest du noch den härtesten Fels zermürben.«
»Ja«, meinte Tania, setzte sich auf und zwang sich, ihre Schwestern anzulächeln. »Sprechen wir nicht mehr von mir. Das ermüdet mich.« Sie blickte zu Eden. »Gibt es denn irgendetwas Neues von Rathina?«
»Die Stille umgibt sie wie ein Nebelmantel«, erwiderte Eden. »Ich kann ihre Gegenwart im Elfenreich weder sehen noch spüren.«
»Unser Vater sorgt sich sehr um sie«, erzählte Cordelia. »Ich habe die Tiere nach Neuigkeiten gefragt, ich habe Vögel ausgeschickt, das Land abzusuchen, aber sie haben nichts entdeckt.«
»Das Letzte, was wir von ihr wissen, ist, dass sie mit Maddalena nach Norden ritt, als wären die Einhörner von Caer Liel ihr auf den Fersen«, fügte Hopie hinzu. »Ich für meinen Teil hege jedoch nicht den Wunsch, sie wiederzusehen. Der König hat Mitleid mit ihr, ich nicht. Ihre bösen Pläne gegen Tania kamen nicht aus einem gebrochenen Herzen, sondern aus der Seele eines grausamen Kindes!«
»Nein, Hopie«, sagte Eden. »Böse Taten und böse Gedanken sind nicht dasselbe. Auch mir tut das arme Kind von Herzen leid. Vielleicht hat die Gabe sich ihr inzwischen offenbart, dann ist sie auf dem richtigen Weg.«
»Wie wahr«, ergänzte Sancha. »Sie sprach kaum darüber, doch weiß ich, dass sie manches Mal grübelte, warum ihre Gabe sich nicht zeigte.«
»Sie war erst siebzehn, als die Große Dämmerung über uns hereinbrach«, sagte Hopie. »Meine Heilkräfte wurden auch nicht gleich an meinem sechzehnten Geburtstag offenbar, sondern sie wuchsen langsam wie eine Pflanze, die man mit Fleiß und Mühe umsorgen muss. Rathina aber meinte, die Gabe müsse ihr in den Schoß fallen.«
»So wie es bei mir war, meinst du?«, bemerkte Tania.
»Deine Gabe wurde prophezeit«, sagte Eden. »Du bist die siebte Tochter, von der man seit Urzeiten spricht. Wie Hopie schon erklärt hat, war es bei uns anders. Unsere Fähigkeiten sind ganz allmählich gewachsen. Rathinas Gabe hätte sich von selbst gezeigt, wäre sie geduldiger gewesen.«
»Geduld gehörte noch nie zu ihren Tugenden«, meinte Zara. Sie warf Hopie einen Blick zu. »Trotzdem tut sie mir leid, so einsam und verlassen draußen in der Wildnis.«
Tania sah Eden an. »Aber wenn du Rathina nicht spüren kannst, heißt das, dass sie gar nicht mehr im Elfenreich weilt? Wo kann sie sein?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Eden. »Welches Schiff würde sie übers Meer in ein anderes Land bringen? Wir würden sofort Kunde davon erhalten.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist, als sei sie hinter einem Schleier verborgen, und ich kann nichts tun, um ihr zu helfen. Sie muss zu ihrer eigenen Zeit und auf ihrem eigenen Weg zurückkehren oder gar nicht.«
Tania schaute auf ihre Armbanduhr. Es war eine Minute vor zehn. Die Zeiger waren genau in dem Moment stehen geblieben, als sie aus ihrem Zimmer ins Elfenreich hinübergetreten war. »Ich muss zurück«, sagte sie. Sie sah Cordelia an. »Ich nehme nicht an, dass ein weiterer Hirsch bereitsteht?«
»Wir finden einen bequemeren Weg zurück zum braunen Turm«, sagte Sancha.
Tania tat es in der Seele weh, dass sie sich schon von ihren Schwestern verabschieden musste, aber sie hatte das dringende Bedürfnis, nach Hause zurückzukehren.
Nach Hause? Die Welt der Sterblichen war also noch immer ihr Zuhause. Und doch, wenn sie hier war, empfand sie das Elfenreich als ihre Heimat. Wie soll ich jemals in
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