Die verlorene Koenigin
Backstein etwas heller, und sie wirkten deshalb nicht mehr so alt. Auf dem Bürgersteig standen statt der Straßenlaternen viereckige Gaslampen, die an soliden Eisenstangen angebracht waren. Ihr gelbes Licht flackerte durch das verrußte Glas.
Tania bemerkte, dass die zuvor bunten Eingangstüren nun einheitlich schwarz waren. Die Fensterrahmen hingegen leuchteten alle weiß.
Plötzlich fühlte sie sich magisch zu der steinernen Eingangstreppe hingezogen, die zu der Tür des Hauses führte, vor dem sie stand. Unter dem Vordach ging etwas Seltsames vor: Es war, als würden sich zwei Bilder überlagern und Tania befände sich in zwei Welten gleichzeitig. Während die pechschwarze Haustür mit dem Messingknauf geschlossen schien, schwang sie gleichzeitig geräuschlos auf und Tania blickte in eine beleuchtete Diele mit dunkelbrauner Tapete und rot gefliestem Boden.
Sie betrat die dämmrige Eingangshalle. Alles drehte sich um sie herum, und ehe sie sich’s versah, befand sie sich in einem warmen, von einem Kaminfeuer erhellten Raum. Sie saß auf einem großen Polstersofa und kuschelte sich an eine schöne Frau in einem lavendelfarbenen Kleid, dessen Röcke raschelten. Goldene Locken, in die hellgrüne Schleifchen geflochten waren, fielen auf Tanias Schultern. Auf der anderen Seite saß ein etwa neunjähriger Junge, der ein schlummerndes Kleinkind auf dem Schoß hielt. Ein Junge und ein Mädchen, die sieben oder acht Jahre alt sein mochten, lagen vor dem Kamin. Sie konnten gut Zwillinge sein. Der Junge war damit beschäftigt, Bilder aus einem Stapel Zeitungen auszuschneiden, während das Mädchen die Fotos sortierte und deren Rückseite mit dicker weißer Paste bestrich, um sie sorgfältig in ein großes Buch einzukleben. Alle Kinder trugen viktorianische Kleidung. Tania steckte in einem geplätteten weißen Kleid mit zahllosen Schleifchen, Rüschen und Falten.
Sie fühlte sich sicher und geborgen und war vollkommen glücklich, sich an ihre Mutter schmiegen zu können und im Kreise ihrer Geschwister zu sein.
Schläfrig blickte sie sich um. Die hohe Decke war reich verziert. Die Tapete zierte ein Muster aus Vögeln, Ranken und Schnörkeln und war in Gold-, Elfenbein- und Braunschattierungen gehalten. Die gläsernen Gaslampen verbreiteten einen warmen Schein. Auf dem Kaminsims darüber stand ein Spiegel mit Goldrand und Porzellanverzierungen. Vor den Fenstern hingen schwere Vorhänge, die durch Troddelbänder gerafft wurden. Im Zimmer befanden sich Polsterstühle und Schemel und an einer Wand stand ein Klavier.
Die Mutter las den Kindern aus einem dicken Buch vor.
»Lies noch mal die Stelle, wo die Katze verschwindet und nur ihr grinsendes Maul für eine Weile zu sehen bleibt«, sagte Tania. »Das ist meine Lieblingsstelle.«
»Besser als die Teeparty beim Hutmacher, Flora?«, fragte die Mutter.
»Oh ja«, erwiderte Tania, die jetzt offenbar Flora war. »Der Fünf-Uhr-Tee ist sehr lustig, aber am liebsten mag ich die Katze.«
»In Ordnung, mein Schatz«, entgegnete ihre Mutter sanft. »Aber dann musst du ein braves Mädchen sein und sofort ins Bett gehen.«
»Darf ich Papa vorher noch Gute Nacht sagen?«, bettelte Flora.
»Ja, das darfst du«, begann ihre Mutter. »Und du kannst ihm auch sagen, das s …« Mitten im Satz verstummte die Stimme der Frau plötzlich und das weiche Sofa sowie der Rest des Wohnzimmers verschwanden in einem dunklen Wirbel.
Flora stand auf der obersten Stufe einer langen Treppe vor einer großen braunen Tür. An der Wand flackerte eine Lampe. Sie war jetzt barfuß und hatte ein langes weißes Nachthemd an. Sie klopfte an die Tür.
»Papa!«, rief sie.
Die Stimme eines Mannes drang durch die Tür. Er klang erschöpft. »Einen Augenblick, mein Herz, es ist gerade nicht sicher.« Nach wenigen Sekunden meldete er sich wieder. »Jetzt kannst du reinkommen.«
Flora drehte den Türknauf und schob die Tür auf. Sie betrat den kleinen, schlicht eingerichteten Raum, der von Tischen und Bücherregalen überquoll. Er wurde ebenfalls von einer Gaslampe erhellt, hatte ein winziges Giebelfenster, fleckige Wände und eine Dachschräge. Ihr Vater stand an einem Tisch.
Er war ein großer, gut aussehender Mann im dunklen Frack mit einem langen Backenbart. Vor ihm standen lauter seltsame wissenschaftliche Instrumente und ein Durcheinander aus Fläschchen und Reagenzgläsern in Holzgestellen, die farbige Flüssigkeiten und Puder enthielten, sowie einige merkwürdige Geräte mit Hebeln, Drahtwindungen,
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