Die verlorene Koenigin
später waren sie alle in Jades Zimmer versammelt. Tania saß vor dem Computer. Sie hatte die Homepage der Plejaden-Kanzlei aufgerufen, auf der das Foto von Lilith Mariner zu sehen war.
»Kein Zweifel, das ist unsere Mutter«, sagte Zara, die ihre zitternden Hände nach dem Bildschirm ausstreckte. »Wie schön, ihr liebes Gesicht nach so langer Zeit wiederzusehen.« Sie blickte aufgeregt zu Cordelia und Sancha. »Seht nur!«
»Ja«, erwiderte Sancha. »Fünfhundert Jahre hat die Königin in der Welt der Sterblichen verbracht und dabei keinen Schaden genommen. Jedenfalls ist nichts zu sehen.«
»Das Bild gleicht ihr aufs Haar«, sagte Cordelia, die über Tanias Schulter spähte. »Ich kann keine Pinselstriche erkennen und doch sieht es aus wie das Gemälde eines Meisters.«
»Das ist ein Foto«, erklärte Tania ihr. »Noch so etwas, das ich nicht wirklich erklären kann«, sagte sie mit einem Lächeln. »Es kommt aus einem kleinen Kästchen. Man richtet es auf jemanden, drückt auf einen Knop f – und fertig. Man hat sofort ein Bild.« Sie blickte auf die leere Hülle der Digitalkamera neben dem Computer. »Ich würde euch gern zeigen, wie man fotografiert, aber Jade hat ihre Kamera mit in den Urlaub genommen.«
»Vielleicht ein andermal«, antwortete Zara, die irritiert auf den Computer starrte. »Von dem Lärm dieser Maschine bekomme ich Kopfweh«, sagte sie. »Danke, dass du uns das Bildnis unserer Mutter gezeigt hast, aber wenn ihr erlaubt, werde ich unten auf euch warten.«
»Ich schließe mich dir an«, bemerkte Cordelia. »Ehrlich gesagt summt dieser Con-Tutor wie ein ganzes Wespennest in Aufruhr!«
»Computer«, sagte Tania ruhig. »Tut mir leid, ich mache ihn gleich aus.« Es überraschte sie, dass das leise Surren ihre Schwestern so störte, denn sie selbst nahm es kaum wahr.
»Ich setze mal Wasser auf«, schlug Edric vor. »Sancha? Kaffee?«
»Zu freundlich«, erwiderte diese.
Wenige Augenblicke später stand nur noch Sancha neben Tania, die gerade den Rechner herunterfuhr.
»Ich habe gesehen, dass Worte auf der Maschine standen«, sagte Sancha mit einem Blick auf den dunklen Bildschirm. »Aber ich kann sie nicht fühlen, sie sind für mich nicht wirklich.«
»Wie meinst du das?«
»Wörter in einem Buch haben eine Struktur, eine Form, denn sie wurden mit Tinte geschrieben und dadurch sind sie real. Doch in deiner Maschine kann ich nichts dergleichen fühlen. Für mich ist sie so leer wie das Gesicht des Mondes.« Zögernd berührte Sancha die obere Kante des Bildschirms. »Nein, ich vermag nichts zu sehen.«
»Aber jetzt habe ich ihn ja auch ausgestellt.«
»Du verstehst mich nicht«, erwiderte sie. »Bleib sitzen, dann erklär ich dir, was ich meine.« Sie stellte sich hinter Jades Schreibtisch, sodass sie Tania direkt ins Gesicht blickte. Sie hob die Hand und vollführte eine kleine Drehbewegung mit den Fingern.
Ein leises Schaben ertönte. Als Tania den Kopf in die Richtung wandte, aus der das Geräusch kam, sah sie eines von Jades Büchern aus dem Regal schweben. Wieder bewegte Sancha die Finger. Das Buch blieb vor Tania in der Luft stehen und klappte von selbst auf. Der Einband zeigte zu Sancha hin, sodass diese nicht in das Buch hineinblicken konnte.
»Das sind Werke aus Tinte«, sagte Sancha. »Worte auf Papier. Schau oben auf die linke Seite. Nach zehn Minuten war David wieder da. ›Fertig‹, sagte er. ›Wir sind jetzt ganz allein hier. Komm, nun wollen wir doch mal sehen, ob wir etwas über die Weiße Dame rausfinden können .‹«
Das waren genau die Worte, die in dem Buch standen. Tania warf einen Blick auf Sancha. Die Miene ihrer Schwester war undurchdringlich, abgesehen von zwei tiefen Falten zwischen den Brauen. Sie hatte die Augen halb geschlossen, die Iris war unter den gesenkten Lidern verborgen, sodass lediglich ein dünnes weißes Oval zu sehen war.
»Wie machst du das?«, fragte Tania. »Du weißt, was in dem Buch steht, ohne es zu lesen?«
Sancha schlug die Augen auf. »Das gehört zu meiner Gabe«, erklärte sie. »Ich kann geschriebene Worte erspüren, ohne sie zu sehen. In einer so großen Bibliothek wie der im Palast ist das eine recht nützliche Fertigkeit. Meinst du nicht auch?«
»Unglaublich hilfreich«, stimmte Tania zu.
Sancha deutete auf den Computer. »Doch in der Maschine sehe ich gar nichts. Darin ist kein Leben, keine Tiefe.«
»Ach, wärst du nur in Titanias Kanzlei dabei gewesen«, sagte Tania. »Du hättest ihre Telefonnummer und ihre
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