Die Verlorene Kolonie
Brust, den Hals hinauf und über die Stirn. Die Augen leuchteten in einem strahlenden Orange, und sein Kinn hatte einen edlen Schwung. Zumindest fand er das, auch wenn andere behaupteten, es würde vorstehen. Er hatte zwei Arme, kaum länger als bei einem zehnjährigen Menschenwesen, und zwei Beine, die etwas kürzer waren. Acht Finger, acht Zehen. Der Schwanz an seiner Rückseite war zwar eigentlich eher ein Stummel, doch sehr nützlich, wenn man nach Maden grub. Kurzum: Er war ein ganz normaler Knirps. Allerdings mit vierzehn Jahren der älteste Knirps auf Hybras. Na ja, mit ungefähr vierzehn. Genau ließ sich das nicht sagen, da immer Morgendämmerung war. Die magische Stunde hatten die Zauberer sie früher genannt, bevor Hybras in die Tiefen des eisigen Alls gesogen wurde. Klang vielversprechend.
Hadley Shrivelington Basset, der eigentlich ein halbes Jahr jünger war als Nr. 1, hatte den Krampf bereits hinter sich und schlenderte, ganz stolzer Dämon, über den gefliesten Flur zum Waschraum. Die Hörner wanden sich eindrucksvoll zu Korkenziehern, und an den Ohren saßen mindestens vier Stacheln. Hadley genoss es, seine neue Dämonengestalt vor den Knirpsen zur Schau zu stellen. Eigentlich hatten Dämonen im Knirpshaus nichts mehr zu suchen, aber Basset ließ sich Zeit mit dem Umzug.
»He, Knirps«, sagte er und klatschte Nr. 1 sein Handtuch auf den Hintern. »Wird's noch was mit deinem Krampf? Soll ich dir helfen, richtig wütend zu werden?«
Das Handtuch tat weh, aber Nr. 1 wurde nicht wütend. Nur nervös. Alles machte ihn nervös. Das war sein Problem.
Ein schneller Themenwechsel schien angesagt. »Morgen, Basset. Tolle Ohren.«
»Ja, nicht?«, sagte Hadley und berührte die Stacheln, einen nach dem anderen. »Schon vier Stück, und ich glaube, da wächst noch ein fünfter. Selbst Abbot hat nur sechs.«
Leon Abbot, der Held von Hybras. Der selbst ernannte Retter der Dämonen.
Hadley schlug erneut mit dem Handtuch nach Nr. 1. »Kriegst du keine Zahnschmerzen, wenn du in den Spiegel siehst? Ich krieg nämlich welche, wenn ich dich nur ansehe.«
Er stemmte die Hände in die Hüften, warf den Kopf zurück und lachte. Sehr eindrucksvoll. Der Kerl führte sich auf wie bei einem Filmcasting.
»He, Basset. Du trägst gar kein Silber.«
Das Lachen erstarb in einem froschähnlichen Gurgeln. Shrivelington Basset vergaß ganz, dass er zum Piesacken hier war, und stürzte davon. Nr. 1 wusste, dass es ihm keine Befriedigung verschaffen sollte, andere halb zu Tode zu erschrecken, aber bei Basset machte er eine Ausnahme. Ob Dämon oder Knirps, es war weit mehr als ein modischer Missgriff, kein Silber am Körper zu tragen. Es konnte tödlich sein, oder noch schlimmer: in alle Ewigkeit schmerzhaft. Diese Regel galt zwar normalerweise nur in der Nähe des Vulkankraters, aber zum Glück hatte Basset zu viel Schiss gehabt, um daran zu denken.
Leise schlich Nr. 1 zurück in den Schlafsaal der älteren Knirpse, in der Hoffnung, dass die anderen noch schliefen. Doch er hatte Pech. Sie rieben sich bereits die Augen und hielten Ausschau nach dem Opfer ihrer täglichen Hänseleien - und das war natürlich er. Er war mit Abstand der Älteste in der Gruppe. Keiner außer ihm war je vierzehn geworden, ohne zu krampfen. Mittlerweile gehörte er quasi schon zum Inventar. Nachts hingen seine Füße über den Bettrand, und die Decke reichte ihm kaum über die gekringelten Mondzeichnungen auf der Brust.
»He, Weichei«, rief einer. »Krampfst du heute? Oder wachsen dir rosa Blümchen unter den Achseln?«
»Heb mal die Arme, vielleicht sieht man schon die Knospen«, spöttelte ein anderer.
Immer diese Gemeinheiten. Die beiden zwölfjährigen Knirpse waren so aufgepeitscht, dass sie wahrscheinlich noch vor dem Unterricht krampfen würden. Aber sie hatten recht. Er hätte auch eher auf die rosa Blümchen getippt.
Weichei war sein Spitzname. Richtige Namen bekamen sie erst nach dem Krampf. Dann wurde ihnen einer aus der heiligen Schrift zugeteilt. Doch bis dahin musste er sich mit Nr. 1 oder Weichei begnügen.
Er lächelte schicksalsergeben. Es war unklug, sich mit seinen Zimmergenossen anzulegen. Jetzt waren sie zwar noch kleiner als er, aber schon morgen konnten sie ein gutes Stück größer sein. Also sagte er nur: »Ich fühle mich schon total aufgepeitscht«, und spannte seinen Bizeps an. »Heute ist bestimmt mein großer Tag.«
Alle im Schlafsaal waren aufgeregt. Mit etwas Glück konnten sie morgen diesen Raum für immer
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