Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
Feindes auf sich gezogen haben. Wir mußten daher auch erwarten, daß uns am 26. der erste Schimmer des Tages seine Bataillone und seine Artillerie zeigen werde, in Schlachtordnung aufgestellt vor dem schwachen Gerüste, zu dessen Aufrichtung Eblé noch 8 Stunden Zeit nötig hatte. Ohne Zweifel, dachten wir, werden sie die Ankunft des Tages nur deshalb erwartet haben, um der Wirkung ihres Geschützes auf den rechten Punkt um so sicherer zu sein. Der Tag erschien, und wir erblickten nur verlassene Wachfeuer, ein menschenleeres Ufer, und auf den Anhöhen 30, in vollem Rückzuge begriffene Kanonen. Eine einzige ihrer Kugeln würde hingereicht haben, um das armselige Rettungsbrett zu vernichten, welches man auszuwerfen im Begriffe stand, um die beiden Ufer miteinander zu verbinden. Statt dessen aber trat ihre Artillerie den Rückzug an, sowie sie die unsrige schußfertig sah.«
Der Ségur unbekannt gebliebene Grund für den raschen russischen Abzug: Sie hatten entdeckt, daß ihren 30 leichten Feldgeschützen eine französische Batterie mit 40 schweren Kanonen am anderen Ufer gegenüberstand, nicht nur in leicht erhöhter Position, sondern auch von erheblich größerer Tragweite. Eine einzige Salve hätte wahrscheinlich die russischen Kanonen vernichtet.
Am 26. November wurde um 13 Uhr die Brücke für die Infanteriefertig und um 16 Uhr die zweite für die Artillerie und die Fahrzeuge. Die von den Pionieren vollbrachte außerordentliche Leistung hat Hauptmann Heinrich von Brandt gewürdigt: »Die Brücke würde in bezug auf Konstruktion und Haltbarkeit vor einem sogenannten Experten gewiß keine Gnade gefunden haben, und dennoch ist es ein wahres Wunder, daß sie zustande gebracht worden. (…) Die Brücke bot keine vollkommene Fläche, die einzelnen Balken waren nach und nach gesunken – nach dem anderen Ufer zu war dies besonders der Fall; ein Teil der Brücke ward hier sogar vom Wasser überflossen, so daß man bis an die Knöchel naß ward. Wenn man bedenkt, daß man durchaus kein Material zur Brücke hatte, daß man nur einige Wagen mit Klammern und Nägeln, zwei Feldschmieden und einige Kohlenwagen aus dem ganzen Material gerettet, daß man die nahe liegenden Häuser zerstören und erst Bäume fällen mußte, um ein notdürftiges Material zu erhalten, daß die Leute dabei bis an die Schultern im Wasser arbeiteten, während die Kälte Kristalle an den einzelnen Körperteilen bildete, so wird man diesen Bau gewiß zu einem der heroischsten kriegerischen Akte dieser hieran gewiß reichen Kampagne rechnen.«
Napoleon gehörte zu den ersten, die über die Brücke gingen, um das gegenüberliegende sumpfige Gelände zu erkunden, wobei sich zeigte, daß die Russen vergessen hatten, das Netz von hölzernen Brücken und Knüppeldämmen zu zerstören, die den Sumpf erst passierbar machten, so daß auch alle Kanonen, Munitions- und Versorgungswagen das Gebiet durchqueren konnten. Erleichtert wurde deren Transport, weil am 26. das Thermometer wieder Minusgrade zeigte, sonst »hätte man nicht eine Lafette durchgebracht«, wie Caulaincourt berichtet, der das Gelände inspizierte: »Denn der Untergrund war ein einziger Schlamm und schwankte einem unter den Füßen. Die letzten Munitionswagen blieben hier stecken, obwohl man alle Augenblicke die Wegspur wechselte, wenn die hartgefrorene Grasnarbe, die als Brücke diente, zerfahren oder in den Bodengedrückt war. Die Räder fanden keinen Stützpunkt mehr und tauchten unter in dem grundlosen Brei. Es bedurfte der ganzen Zähigkeit und Umsicht der Kolonnenführer, um sich hier herauszuarbeiten. Man kann sagen, daß das Glück dem Kaiser nie so gut geholfen hat wie in diesen zwei Tagen; denn ohne den scharfen Frost hätte er nicht einen Karren gerettet.«
Nach seinem ersten Abstecher zum anderen Ufer war der Kaiser nach Studjanka zurückgekehrt, um den Übergang seiner Soldaten persönlich zu überwachen. Am 27. November zogen die Garde (6400 Soldaten), die Artillerie und die Wagen über die beiden Brücken. Diese brachen mehrfach, die erste schon am 26., was eine Reparatur von vier Stunden Dauer erforderte, am 27. brach um 14 Uhr die Brücke ein zweites Mal und um 16 Uhr ein drittes Mal. Auch hier mußten die Pioniere ins eisige Wasser, um den Schaden zu beheben. Chefchirurg Larrey, der sich im Biwak der Garde befand, wurde nachts von schweren Träumen geplagt und von einem der Grenadiere geweckt: »Seien Sie ruhig, Herr Larrey, wir sind bei Ihnen, und der Kaiser ist da!« Ja,
Weitere Kostenlose Bücher