Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
durch ein gesprungenes Granatstück verwundet; ich brachte ihn nicht mehr von der Stelle, und kaum blieb mir Zeit, meine Jagdtasche, die mir als Mantelsack diente, abzulösen. Mit Schmerzen ließ ich das edle Tier zurück, das mich seit Moskau zweimal dem Tod oder der Gefangenschaft entrissen hatte.
Mit Gewalt drängte ich nun immer vorwärts über zuckende Körper von Menschen und Pferden; oft berührte ich mit dem Fuße streckenweit keinen Boden, von der nach der Brücke strebenden Masse geschoben und getragen.
In diesen Augenblicken sah ich viele halb erdrückt zu Boden fallen, um sich nie mehr aufzurichten. Einige Male war ich der Gefahr nahe, ein ähnliches Opfer zu werden; aber Verzweiflunglieh mir Riesenkräfte. Ich raffte mich immer wieder auf, und unter solchem fürchterlichen Kampfe nach Rettung gelang es mir, förmlich über die Brücke getragen, das jenseitige Ufer zu gewinnen.«
Das nur noch 6000 Soldaten zählende 9. Armeekorps des Marschalls Victor, überwiegend Badener, Polen und Franzosen, hatte alle Angriffe des weitüberlegenen Korps von Wittgenstein abgewehrt, sich aber in der Nacht vom 28. zum 29. über die Brücken zurückgezogen. Eine kleine Nachhut, gesichert von badischen Grenadieren, folgte am Morgen des 29. kurz vor 9 Uhr, dann ließ General Eblé die Brücken verbrennen. Obwohl sie in der Nacht nahezu leer gewesen waren und Eblés Warnung, man würde sie am nächsten Morgen um 9 Uhr anzünden, der fast apathischen Masse von Nachzüglern bekanntgemacht worden war, hatte niemand die günstige Gelegenheit zur Flucht genutzt, und dann war es zu spät. Der westphälische Oberleutnant Friedrich Gieße schreibt, es habe sich bei dieser Masse um Verwundete, Kranke, Verwaltungspersonal, Zahlmeister, versprengte Offiziere, unbewaffnete Soldaten, Marketender, Frauen mit und ohne Kinder und Menschen gehandelt, die ihr von Moskau bis hierher gerettetes Plünderungsgut unter keinen Umständen preisgeben wollten. »Ein fürchterliches Erwachen aber gab es für jene Sorglosen, als Victor den 29. des Morgens um halb sechs Uhr seine Arrièregarde einzog und späterhin auch die letzten, in polnischer und sächsischer (tatsächlich badischer) Infanterie bestehenden Posten auf das rechte Ufer übergehen ließ. Nun erst beeilten sich dieselben, auf die Brücken zuzustürzen, wo sie den Übergang sich selbst zum letzten Male versperrten. General Eblé hatte Befehl, die Brücken, wovon bloß nur die noch für Fußvolk und Reiter praktikabel, um 7 Uhr niederzubrennen. Es waren alle Vorkehrungen hiernach getroffen, von der Brücke bereits die dem linken Ufer zunächst gelegene Hälfte abgedeckt und die Böcke nur durch einzelne Bretter noch miteinander verbunden. Derselbe zögerte indessenmit der Ausführung, sosehr er konnte, und vollzog sie erst um halb 10 Uhr, als er die Russen herannahen sah und keinen Augenblick mehr zu verlieren hatte. Ein Zetergeschrei erging jetzt von den auf dem linken Ufer Zurückgebliebenen! Viele berannten verzweiflungsvoll die Brücke, um sich, was freilich mißglückte, vermittelst des brennenden Balkenwerks noch zu retten, andere aber ergaben sich mit der größten Resignation in ihr unabänderliches Geschick.«
Obwohl die Russen sahen, daß ihnen am östlichen Ufer der Beresina keine kämpfenden Truppen mehr gegenüberstanden, wurde der pausenlose Beschuß durch ihre Artillerie auf die Masse der Wehrlosen weiter fortgesetzt. Der Übergang über die Beresina kostete die Grande Armée etwa 13 000, die Russen zwischen 10 000 und 15 000 Mann an Toten und Verwundeten. Von den vermutlich 24 000 Gefangenen, die Wittgenstein machte, waren nahezu alle – die schon vorher festgenommene Division Partouneaux ausgenommen – waffenlose Nachzügler und zu einem beträchtlichen Teil Zivilisten.
Inmitten des Elends gab es aber auch zuweilen Augenblicke der Menschlichkeit. Am 30. November besetzte eine Eskadron der Sumski-Husaren ein Dorf in der Nähe von Minsk und fand dort das Wirtshaus voll von französischen Gefangenen und Verwundeten, die man nicht einmal bewachte, weil sie, halb verhungert und erfroren, zur Flucht gar nicht mehr fähig waren. Die russischen Husaren, betroffen von diesem Anblick, teilten ihre wenigen Lebensmittel mit den Gegnern »und beklagten untereinander den jammervollen Anblick«, wie Leutnant Karl von François schreibt, der sich im Gespräch mit anderen aus Kurland stammenden Offizieren des Regiments, der deutschen Sprache bediente: »Da richtete sich in einer
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