Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
Ecke des Zimmers ein halb Erstarrter mühsam empor: ›Ich höre deutsch sprechen – ach, wenn sich doch jemand meiner erbarmen wollte!‹ Es war ein bergischer Offizier – die Uniform grün mit roten Revers, wenn ich mich recht erinnere –, einarmes junges Blut, der mütterlichen Obhut wohl noch nicht lange entwachsen. Wir hatten tiefes Mitleid, aber helfen konnten wir nicht. Waren wir doch zu Pferde, selbst arg mitgenommen von Kälte und Strapazen und mußten fürchten, in dem dichten Schneegestöber und der bereits eingebrochenen Dunkelheit unser Regiment zu verfehlen, wenn wir länger zögerten.« Die russischen Husaren erreichten ihr zugewiesenes Quartier in einem Bauernhaus, sie hatten es warm und behaglich und ausreichend zu essen und zu trinken. Die Offiziere gedachten ihres deutschen Kameraden aus dem Großherzogtum Berg. »Wenn wir ihn doch hier hätten, ihn pflegen und erquicken, vielleicht vom Tode erretten könnten!« Da sagte einer: »Laßt uns darum spielen! Wer verliert, muß ihn holen.« Karl von François verlor und machte sich mit einem Schlitten, »mit Pelzen, Decken, Branntwein und Lebensmitteln« versehen, und einer Eskorte auf den Weg: »Glücklich erreichte ich das Dorf und das Wirtshaus, aber von unserem bergischen Offizier war nirgends mehr etwas zu erblicken. Ich suchte und rief ihn bei seinem Namen, August Neumann; er hatte uns denselben vorher genannt. Endlich antwortete eine schwache Stimme: ›Wer ruft mich?‹ Der Unglückliche war auf einen großen Backofen gekrochen, um sich zu wärmen. Schnell ward er heruntergehoben, in Pelze gehüllt und in den Schlitten gebracht. Im gestreckten Trabe ging es dann wieder zurück in unser Quartier, wo die Kameraden uns jubelnd empfingen. Am andern Morgen jedoch mußten wir dasselbe wieder verlassen und konnten unsern schon am Pestnervenfieber erkrankten Schützling nicht mitnehmen. Da nun die russischen Bauern sich solcher unwillkommenenen Gäste meist sehr schnell zu entledigen pflegten, so bedeuteten wir unsern Wirt, ihn nach Minsk ins Lazarett zu fahren. Wir fügten hinzu, daß der Kranke ein sehr vornehmer Herr sei, dem man weiter nachfragen werde, und um unseren Worten mehr Nachdruck zu geben, schenkten wir dem Wirte Pferd, Schlitten und Geld.«
Zwanzig Jahre später erfuhr Karl von François zufällig, daß August Neumann tatsächlich gerettet worden war und später als glücklicher Familienvater in einer rheinischen Stadt lebte.
18. NAPOLEON VERLÄSST DIE ARMEE
Das Abbrennen der beiden Beresina-Brücken brachte den Resten der Grande Armée nicht den erhofften Vorsprung vor ihren Verfolgern, denn da die Kälte immer mehr zunahm (über 25 Grad minus), fror die Beresina zu, und das Eis trug jetzt die Last der Kanonen und Pulverwagen; gefroren waren auch die Sümpfe von Sembin. Leutnant Christian von Martens trägt am 30. November in sein Tagebuch ein: »Was wir in diesen langen Nächten zu leiden hatten, kann nicht leicht geschildert werden; das schnell auflodernde Feuer schrumpfte auf einer Seite die auftauenden Glieder zusammen, während auf der entgegengesetzten Seite der Frost doppelt empfunden wurde, die zerlumpten Kleider wurden durch darauf fallende Kohlen immer mehr bis auf die Haut durchlöchert; das Ungeziefer, welches man scharenweise auf dem Leibe trug, setzte sich durch die Wärme in Tätigkeit und marterte uns bis zur Verzweiflung; endlich stellte sich, wenn man auf das äußerste erschöpft war, der Schlaf ein, die Augen fielen zu, das Feuer erlosch, und viele erlebten den folgenden Tag nicht mehr. – Doch noch unglücklicher waren jene, denen noch das zurückgetretene Blut im Herzen rollte, mit erfrorenen Händen und Füßen waren sie nicht mehr vermögend aufzustehen, sie kämpften in schrecklicher Todesangst, sahen ihre Kameraden weiterziehen und sich hilflos dem qualvollsten Tode preisgegeben, in ihren wilden Zügen herrschte Bestürzung, Hunger, Schmerz und Tod. Den wollenen Socken, die mir als Handschuhe dienten, hatte ich die Möglichkeit der Fortsetzung meines Tagebuchs zu verdanken, ohne diesen Schutz hätte ich bei der grimmigen Kälte keinen Finger bewegen können. Moskauer Simpel wurde ein jeder genannt, dessen Bewußtsein unter den obwaltenden Umständen Not gelitten hatte; für einen solchen mag man mich auch gehalten haben, wenn ich am Biwakfeuer zusammengeschrumpft Bleistift und Papier hervorzog, um des Tages Begebenheiten niederzuschreiben.«
Christian Wilhelm von Faber du Faur: In der Gegend von
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