Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
Smorgonie, den 3. Dezember 1812. – Zerlumpt, in Decken und manchmal auch in Pelze gehüllt, fast verhungert und völlig demoralisiert, so trafen hier Überlebende auf 1600 württembergische Soldaten, die ihnen bei Smorgonie zur Unterstützung entgegengeschickt worden waren. In der Mitte auf dem Pferd ein General, rechts eine Gruppe Erfrorener, von denen einer bis aufs Hemd ausgekleidet wurde. Die Temperatur war auf über minus 30 Grad Celsius gefallen. Die daran nicht gewohnten und nicht abgehärteten Reservesoldaten starben schon in den folgenden Nächten.
Am 2. Dezember wurde in Molodetschno die von Minsk nach Wilna führende Heerstraße erreicht: »Die Kälte nahm heute so furchtbar zu«, notiert von Martens weiter, »der echte russische Winter hatte sich nun eingestellt, er wehte mit erstarrendem Hauch tödlich über alles Lebende hin. Müdigkeit,Hunger und Frost behaupteten eine solche Lähmungskraft, daß man sich, wenn man eine Stunde ausgeruht zu haben wähnte, kaum mehr aufzurichten vermochte. Mühsam schleppten wir uns fort durch große Forste und über Schneefelder hin; alle Waffenbrüderschaft, alles Gefühl von Menschlichkeit und Mitleiden verschwand vor dem instinktmäßigen Triebe der Selbsterhaltung, man sah nur von Hunger, Kälte und vom Rauch der Lagerfeuer entstellte Gesichter. Viele Generale und höhere Offiziere verloren sich in der Masse und waren froh, sich an den Biwakfeuern der Soldaten erwärmen zu können und Schutz gegen die Unbilden der Kosaken bei ihnen zu finden. Wir sahen heute viele Erstarrte am Boden liegen, die meisten ihrer Kleidung schon beraubt, und viele, die sich nicht mehr aufzurichten vermochten. Überall, wohin die Blicke fielen, sah man nichts als Elend und Tod, überall das Geschrei und Ächzen der Unglücklichen, die, hilflos am Wege hingestreckt, mit dem Tode kämpften. Alle Rangordnung hatte ein Ende, schon der besseren Kleidung wegen wurden höhere Offiziere öfters ausgezogen, noch ehe sie völlig ausgelitten hatten.«
»4. Dezember. Mit Sehnsucht erwarteten wir den Tag, um diese Stelle verlassen zu können, und machten uns, noch ehe derselbe anbrach, auf den Weg; die eiskalte Luft wirkte erstarrend, die bleich durchscheinende Sonne brachte keine Wärme in unsere Glieder; in das vom Schneeglanz geblendete und vom Rauch der nächtlichen Feuer entzündete Auge drangen ihre Strahlen mit brennendem Schmerz ein und fügten eine neue Folter zu den vielen Qualen, denen die meisten erlagen. Wie leuchtende und blendende Funken flirrte es beständig in der scharfkalten Luft; von diesem feinen Reifen, der morgens fiel, war man bald umhüllt, und besonders verursachte der Atem eine dicke weiße Hülle auf dem Bart und den Haaren, die Augen klebten zu, und nur mühsam konnte man sie kaum so weit öffnen, um vor sich sehen zu können. Tiefe Todesstille herrschte nun, und man vernahm nur daspfeifende Knarren des Schnees unter unseren Füßen und dann und wann das beklommene Stöhnen derjenigen, die erschöpft zu Boden sanken, um sich nicht wieder emporzurichten.«
»5. Dezember. Um 8 Uhr morgens kamen wir drei in Oschmiani an, einer ziemlich bedeutenden Stadt mit vielen steinernen Häusern, in welcher eine 8000 Mann starke Abteilung der Division Loison untergebracht wurde. Es waren meist deutsche Truppen, darunter auch 1000 Württemberger unter dem Kommando des Oberstleutnants von Berndes, der im August mit 1300 Mann das Vaterland verlassen hatte. Der Anblick einer gutgekleideten und gutgenährten Truppe überraschte uns sehr, aber es war ein Lichtstrahl in dunkler Nacht; sie mußten unsere Nachhut bilden, und ein paar solcher Winternächte reichten hin, die mit dem grenzenlosen Ungemach noch nicht vertrauten Krieger beinahe völlig aufzureiben. Die letzte Anstrengung aller Kräfte wurde angewendet, unser heißersehntes Ziel, Wilna, zu erreichen, aber immer mehr und mehr bedeckten sich die Straßen in einer furchtbaren Progression mit Leichen und gefallenen Pferden, und diese Dezembertage waren die schrecklichsten und ihre Kälte die zerstörendste während des ganzen Rückzuges. Alle Wohnorte an der Straße waren bei unserer Ankunft abgebrannt oder niedergerissen, und um Obdach zu finden, blieb uns nichts übrig, als unser Heil entfernt aus dem Getümmel der Heerstraße zu suchen. Dieses Mal mußten wir jedoch eine große Strecke auf dem Schneefelde zurücklegen, bis wir gegen Abend ein großes Dorf zu Gesichte bekamen. Aber auch dieses war von Truppen so sehr besetzt, daß
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