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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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oder haßte, so war doch wohl im ganzen Heere keiner, der ihn nicht für den größten und erfahrensten Feldherrn hielt und unbedingtes Vertrauen auf sein Talent und seine Kombinationen setzte. Wo sich der Kaiser zeigte, glaubte sich der Soldat des Sieges gewiß; wo er erschien, ertönte ein tausendstimmiges Vive l’Empereur! Der blendende Schein seiner Größe überwältigte auch mich und riß mich hin zu Bewunderung und Enthusiasmus, daß ich aus vollem Herzen, mit aller Kraft meiner Stimme einstimmte in das Vive l’Empereur! Welch imposanter Anblick, dieses ungeheure, prachtvolle, wohldisziplinierte Heer! Der Untergang Rußlands schien so gewiß, wie Napoleons prophetischer Aufruf an die Armee ihn ankündigte.«
    Dieser Aufruf war der Armee an diesem Tag bekanntgemacht worden, er enthielt außer der Feststellung, daß nun der Krieg beginne, nur die Versicherung von Sieg und Frieden.Graf Wedel schwärmt noch in der Erinnerung von der vorzüglichen Verpflegung: »Huhn, Schinken, Speck, Butter, einige Eier. Kurz, es fehlte dem Soldaten an nichts.« Das mochte für das 1. Korps der Reserve-Kavallerie, in dem Graf Wedel diente, zutreffen, doch anderen ging es weniger gut. Christian von Martens notiert einen Tag später in seinem Tagebuch, daß er und seine Kameraden nichts anderes bekommen hatten als Branntwein, »für die Erhaltung der Gesundheit ganz unentbehrlich, indem damit das schlechte Wasser trinkbar hergestellt und unschädlich gemacht wurde«. Als er »eine französische Offiziersfrau sich an schönem weißen Brot sättigen« sah, überkam ihn der Heißhunger, er »flehte in ihrer Sprache um ein Stückchen solcher so lange entbehrten Labung; die gute Seele reichte mir ein ganzes Laibchen mit der dringenden Bitte, es nicht sehen zu lassen«.
    Napoleon hatte am Abend des 23. Juni ein weiteres Mal Ärger mit einem Tier. Als er im Schritt durch das große Heerlager ritt, verfolgte ihn plötzlich ein Hund mit lautem Gebell, der sich auch nicht abschütteln ließ, als der Reiter vom Schritt in den Trab wechselte, sondern nun auch noch begann, das nervöse Pferd in die Beine zu beißen. Wie Graf Soltyk beobachtete, griff Napoleon aufgebracht zur Pistole und schoß auf den Hund, verfehlte ihn aber, worauf die Garde-Jäger seiner Eskorte ihre Säbel zogen, den Hund zerhackten und ihn »im Augenblick unter die Füße ihrer Pferde« traten.
    Am Morgen des 24. Juni, einem Mittwoch, begann der Marsch der Heerscharen über die drei im Abstand von jeweils hundert Metern errichteten Pontonbrücken. Von dem »wohldisziplinierten Heer«, von dem Graf Wedel spricht, weiß Heinrich von Brandt nichts. Im Gegenteil, Chaos herrschte an den Brücken, denn Napoleon hatte zugelassen, daß die Regimenter von einem ungeheuren Troß aus Fuhrwerken begleitet wurden. Neben den Versorgungs-, Munitions- und Sanitätswagen rollten Hunderte eleganter Equipagen, in denen Generale und Offiziere ihre Ehefrauen, Geliebten und zahlreiche Luxusartikel mit sich führten, die nun vor allem der Artillerie mit fast tausend Geschützen den Weg versperrten, was zu häßlichen Auseinandersetzungen und ständigen Stockungen führte. Dazu hatte Regen eingesetzt, und die Stimmung war gereizt und aggressiv. Regimentsarzt Heinrich von Roos fiel auf, daß nicht ein einziger Soldat sang.
    Christian Wilhelm von Faber du Faur: Am Njemen, den 25. Juni 1812. – Der württembergische Oberleutnant der Artillerie Faber du Faur hat während des ganzen Feldzugs das Geschehen mit dem Zeichenstift begleitet und die Skizzen 1827/30 als Lithographien ausgearbeitet. Dieses Blatt zeigt den Übergang über den Njemen am zweiten Tag des Krieges. Im Vordergrund ist französische Linien-Infanterie aufmarschiert.
    Die 6000 Einwohner zählende Grenzstadt Kowno wurde als erste besetzt, ein »kleines schmutziges Nest«, nennt es Heinrich von Brandt; die russischen Beamten hatten es schon verlassen, die Einwohner ließen sich kaum sehen, das Militär war abgezogen. Napoleon, der den ganzen Tag die Bewegungen der Kolonnen von einer Anhöhe aus verfolgt hatte, traf um neun Uhr abends in dem Städtchen ein und bezog im bischöflichen Palais sein erstes Quartier auf russischem Boden.
    Zar Alexander I. befand sich an diesem Tag in Wilna, wo er die Öffentlichkeit über den am 28. Mai zu Bukarest geschlossenen Frieden mit dem Osmanischen Reich informierte. Für Napoleon, der damit nicht gerechnet hatte, bedeutete das eine Hiobsbotschaft, denn nun konnten die Russen alle an der türkischen

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