Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
geworden, daß die Soldaten buchstäblich »im Morast steckten«, erinnert sich Leutnant Karl von Kurz. »Weit entfernt, daß uns die Mäntel Schutz gaben, faulten uns die Uniformen, Stiefel und Schuhe auf dem Leibe. Am meisten hatten wir dann in den Biwaks, welche zur Ruhe und Erholung dienen sollten, im Gegenteil aber unsere Leiden vermehrten, mit Widerwärtigkeiten zu kämpfen; man mußte gerade stehen bleiben oder sich gegen irgendeinen Gegenstand anlehnen, denn liegen oder ausruhen konnte man nicht in dem überall fußtiefen Morast; von Stroh war gar keine Rede, und war auch an Holz gerade keinMangel, so war es doch unmöglich, bei den fortdauernden Regengüssen Feuer zu unterhalten. Wir standen die ganze Nacht bis an die Knie im Morast – ohne erwärmendes Feuer, dem kalten Nachtfrost und dem ewig sich ergießenden Regen bloßgegeben – ermangelnd der geringsten erwärmenden Nahrung. Nur noch zwei weitere Tage Regen, und wir wären allesamt buchstäblich im Moraste erstickt.«
Dem Husarenleutnat Eduard Rüpell von den westphälischen Truppen des 8. Armeekorps, die weiter südlich in der Nähe von Grodno standen, erging es ähnlich. »Ein eisiger Regen schoß in Strömen herab und peitschte uns ins Gesicht. Der Boden war zu Schlamm geworden und an ein Liegen war gar nicht zu denken. Stehenden Fußes harrte ein jeder der finsteren Nacht entgegen; man stand bis über die Knöchel im Kot, und beim Aufheben des Fußes blieb fast immer der Stiefel im nassen Erdreich stecken. Viele Husaren hatten sich in ein ungewöhnlich kleines Bauernhaus verkrochen, in dessen innerem Raum ein Backofen war, der aber seinen Abzug nach innen hatte; mithin war der Rauch zum Ersticken. Ich hatte mir mit vieler Mühe ein Plätzchen in diesem Loche erobert, aber die Hitze und der Rauch waren gräßlich, und ich zog es vor, mich wieder in den fortwährenden Platzregen zu begeben. Ein bißchen Schaffleisch, am Ladestock eines Karabiners aufgespießt und über die Kohlen gehalten, dann mit Pulver gesalzen, war mein Abendbrot, ein Schluck Schnaps mit zerdrücktem Wacholder machte den Schluß; Brot gab es nicht.«
Bei Minsk gerieten die Westphalen in ein Unwetter, »welches fast acht Tage anhielt«, so der Sergeant-Major der Voltigeure Carl Hüne vom 2. westphälischen Infanterie-Regiment. »Während dieser Zeit wurde das Zeug auf dem Leibe nicht trocken, weil wir die Nächte stets unter freiem Himmel zubrachten.« Wie meist war auch hier die Verpflegung mangelhaft. »Das Schlachtvieh, welches der Armee nachgeführt wurde, war abgetrieben und mager, daher das ›Fleisch‹, welches uns geliefert wurde, nur aus Haut und Knochen bestand.Das spärlich gelieferte Brot war von ebenso schlechter Beschaffenheit; Hülsenfrüchte wurden gar nicht mehr geliefert. Der Soldat hatte also nichts als die kahle Bouillon und Brot, welches acht Tage lang über die bestimmte Zeit ausblieb.« Angesichts solchen Elends begriff Leutnant Wilhelm von Koenig nicht, »wie es möglich war, daß auch nur ein Mann mit dem Leben davonkam«.
Die Gewaltmärsche, die unzureichende Ernährung, der Dauerregen und die in Schlammpfade verwandelten Straßen setzten nicht nur den Menschen zu, sondern auch den Pferden. An eine Versorgung mit Heu und Hafer hatte niemand gedacht, offenbar im Glauben, Pferde könnten sich in freier Natur selbst versorgen. Man fütterte sie mit dem verfaulten Stroh, mit dem die Häuser gedeckt waren, oder trieb sie in das grüne Korn. Das aber führte, wie schon Coignet über den Marsch auf Wilna beschrieb, zu schweren Koliken und Durchfall, an dem die Tiere – geschwächt durch mangelnde Ernährung und die täglich ihnen abverlangten Leistungen – zu Hunderten und bald zu Tausenden starben. Leutnant von Kurz schätzt die Zahl der bis Wilna krepierten Pferde auf 12 000. Und Leutnant Christian von Martens beobachtet am 22. Juli auf dem Marsch nach Disna die Rohheit, mit der die Zugtiere behandelt wurden: »Auf der Heerstaße war der Morast unbeschreiblich, die schweren Munitionswagen blieben oft darin stecken, und die armen Pferde wurden von den Trainsoldaten beinahe zu Tode gepeitscht, am Ende ausgespannt und im Kote liegend ihrem Schicksale überlassen, mit gefallenen Pferden war der ganze Weg von Kruki bis Disna bezeichnet.«
Weiter südlich, bei Pilony, überschritt das 4. Armeekorps die russische Grenze. »Auf einem Marsche von zehn Stunden zählte ich fünfhundert infolge des ungünstigen Klimas gefallene Pferde«, berichtet Albrecht Adam,
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