Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
Vom Netzwerk:
Grenze gebundenen, jetzt aber frei werdenden Truppen gegen seine südliche Flanke einsetzen, was sie auch schon sehr bald taten. Am Abend gab der russische General Levin August von Bennigsen, den 1807 Napoleon bei Eylau zum Rückzug gezwungen hatte, auf seinem nahe Wilna gelegenen Schloß Zacrest für den Zaren einen Ball. Hier erreichte Alexander die Nachricht vom Einmarsch der Grande Armée ; die Festlichkeit wurde abgebrochen. Formal war mit der knappen Proklamation Napoleons an seine Armee der Krieg erklärt, den Zaren hatte er nicht informiert. Die Russen wurden nicht überrascht. Beide Seiten hatten einander ihre persönlichen Gesandten zu Verhandlungen geschickt, die aber – wie vorauszusehen – ergebnislos geblieben waren. Außerdem war der Zar über die Truppenbewegungen in Polen längst informiert worden und hatte daher fast täglich mit dem Angriff gerechnet.
    Die Grande Armée überschritt die russische Grenze an mehreren Stellen. Am 24. Juni marschierte das 10. Armeekorps von Tilsit aus in das Baltikum ein mit dem Ziel Riga. An diesem und dem folgenden Tag überquerte bei Poniemen die Garde, das 1., 2., 3. und 6. Armeekorps und die vier Korps der Reserve-Kavallerie den Njemen, das 4. Armeekorps dann am 25. bei Pilony. Das 5. und 8. Armeekorps folgten einige Tage später bei Grodno, das 7. bei Bialystok und das österreichische Hilfskorps bei Drohiczyn. Insgesamt betraten innerhalb einer Woche 326 000 Mann mit 984 Kanonen russischen Boden. Das 9. und 11. Armeekorps blieben als Reserve zurück und wurden erst später eingesetzt.

6. VOM NJEMEN BIS SMOLENSK
    Der Zar hatte Napoleons Grande Armée keine ebenbürtige Abwehr gegenüberzustellen. Die durch das Bündnis mit Schweden in Finnland frei gewordenen Truppen waren noch unterwegs zur Front, weitere Einheiten band vorerst noch der Krieg mit dem Osmanischen Reich auf dem Balkan. Die zahlenmäßig weit schwächere russische Armee besaß dafür aber beträchtliche Vorteile. Sie hatte sich gründlich auf diesen Krieg vorbereitet, war glänzend organisiert und ausgerüstet, bestand nicht aus einem Völkergemisch wie die Grande Armée, litt nicht wie diese unter Nahrungsmangel und Nachschubschwierigkeiten, sondern stützte sich auf ein gut eingerichtetes Magazinsystem, auch wenn sie auf Requisitionen im Land nicht ganz verzichten konnte. Aber sie wußte die einheimische Bevölkerung auf ihrer Seite, die sie über jede Bewegung des Feindes informierte. Für eine Verteidigungsschlacht waren die Russen jedoch zu schwach. Bei Beginn des Krieges standen Napoleon folgende Einheiten gegenüber: auf dem rechten Flügel, zum Schutz Rigas, das Korps des Generals Iwan Nikolajewitsch Essen; ihm schloß sich bei Dünaburg das zur 1. West-Armee gehörende Korps des Generalleutnants Peter von Wittgenstein an. Diese 1. West-Armee, die russische Hauptstreitkraft, konzentrierte sich nördlich und südlich von Wilna unter dem Befehl des Kriegsministers und Generals der Infanterie Michael Bogdanowitsch Barclay de Tolly. Zwischen Grodno und Brest-Litowsk befand sich die 2. West-Armee unter dem General der Infanterie Fürst Pjotr Iwanowitsch Bagration; südlich von Bagration stand die 3. West-Armee unter dem General der Kavallerie Alexander Tormassow.
    Diese drei Armeen zählten 175 250 Soldaten, dazu kamen noch 15 000 Kosaken, denen die Aufgabe zukam, die Bewegungen des Feindes unablässig zu beobachten und dafür zu sorgen, daß keine Nachzügler zurückblieben. Sie umkreisten auf ihren kleinen, sehr ausdauernden Pferden die regulärenEinheiten wie Hütehunde die ihnen anvertraute Schafherde. Überdies waren Reservetruppen von 298 000 Mann unterwegs. Dem russischen Generalstab war von Anfang an bewußt, daß man sich zunächst würde zurückziehen müssen, bis sich eine günstige Verteidigungslinie errichten ließe, die durch Reserven aus dem Landesinneren verstärkt würde. Daraus entstand die bis heute lebendig gebliebene Legende, das Konzept der Russen sei gewesen, den Feind vorsätzlich in die Tiefe des Raums zu locken, um ihn dann dem strengen Winter zu überlassen. Doch ein solcher Plan hat nie existiert. Wo sich die Russen stark genug fühlten, leisteten sie Widerstand. Im Süden, wo Sachsen und Österreicher gemeinsam operierten, sorgte die Armee Tormassows dafür, daß der Feind während des ganzen Feldzugs nie über das Dreieck Bialystok – Slonim – Brest – Litowsk hinauskam; im Norden konnte der Abschnitt längs der Düna von Riga bis Polozk gehalten werden.

Weitere Kostenlose Bücher