Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
dazu sehr viel marschieren, daß wir nicht glaubten, daß es möglich sein könnte, daß ein Mensch solche Strapazen ausstehen könnte. Wie wohl aber wird mancher Vater, manche Mutter zu der andern sagen: wie gerne wollte ich wissen, wie es meinem Kinde in der Entfernung ginge. Aber, ach Gott; wie viele Väter, wie viele Mütter werden vergeblich fragen, da schon so viele auf dem Marsch umgefallen und von keinem Menschen eine Hilfe zu erwarten gehabt haben, die teils vor Hunger und Kummer gestorben oder sogar von diesem rohen wilden Volk totgeschlagen worden sind. Was uns an Lebensmitteln gebrochen hat, läßt sich von uns kaum ausdenken. Wenn wir denken können, unsere Eltern und Geschwisterich können im Frieden Gottes ihre Unterhaltung genießen, und wir müssen in der Entfernung mit abgemartertem Körper herumschweben … Vierzehn Tag haben wir bei unsrem Regiment keinen Bissen zu sehen bekommen … Wir hätten nochviel zu schreiben, aber es wird auch an dem zuviel sein. Wir sämtlichen Kameraden grüßen unsere Eltern und Geschwisterich, auch sonst nahe Freunde herzlich und verbleiben Eure in der Entfernung schwebende Söhne Wagner, Hartmann und Offtermatt. Auch der Merz und Killinger lassen ihre lieben Eltern grüßen.«
Von »glühender Hitze« tags und »schneidender Kälte« nachts spricht Leutnant Karl von Kurz für die Zeit vom 6. bis 31. Juli. Hauptmann August von Thurn und Taxis erinnert sich an eine »jede Beschreibung übertreffende Hitze«. Die Soldaten quälte der Durst, »es gab in den mehrsten Gegenden kein Wasser, welches trinkbar war«, schreibt Jakob Walter, man hätte aus Gewässern trinken müssen, »in welchen krepierte Pferde und tote Menschen lagen«. Der bayerische Feldwebel Joseph Schrafel, Feldwebel im 5. bayerischen Infanterie-Regiment »Preysing« (6. Armeekorps, 20. Division), mußte mit seinen Leuten den »Durst aus einer großen Pfütze löschen; Wasser konnte man die braune Brühe, die zudem von unzähligen Würmern wimmelte, unmöglich nennen. Kein Wunder, daß viele Krankheiten entstanden. Die Ärzte ordneten an, daß die Flüssigkeit vor dem Gebrauch gesotten und durchgeseiht werden müsse. Damit wir wenigstens keine Insekten mit verschluckten. Wir gruben Löcher, weil wir hofften auf Wasser zu kommen; allein immer trafen wir auf eine solche braune Jauche. Endlich wurde am Posthaus ein Brunnen entdeckt, der gutes, aber etwas süßes Wasser gab. Bei ihm wurde nun eine Wache postiert, damit der Brunnen nicht zu früh erschöpft wurde. Dennoch hatten wir ihn bald ausgetrunken, und auf dem Grunde fanden wir – welch ein Ekel für uns – ein Menschenbein, das oben am Schenkel abgenommenen und von den Russen wahrscheinlich absichtlich in den Brunnen geworfen worden war. Nun konnten wir uns auch den so süßlichen Geschmack des Wassers erklären. Niemand trank mehr aus dem Brunnen.«
Das verdorbene Trinkwasser führte zu Epidemien. Bis zumKriegsausbruch am 24. Juni hatte es keine Erkrankungen gegeben, so Heinrich von Roos. Doch nach einer Woche breitete sich unter den von Gewaltmärschen und Dauerregen völlig erschöpften Truppen zunehmend die Diarrhoe aus. Roos, der kaum über Medikamente verfügte und auch keine bekommen konnte, therapierte mit Tee, aufgebrüht aus Pfefferminze, Kamille, Melisse und Flieder. »Denen, die besonders litten, ließ ich mit diesem Getränke Opiumtinktur mit Hoffmannstropfen reichen, und solange ich solche und andere dienliche Mittel hatte, ging es erträglich. Man schleppt sich fort, ohne gänzlich zu erkranken, ungeachtet die Ursachen fortdauerten. Vielen bekamen dicke Mehlsuppen oder Brei bei Anfällen besagter Art äußerst gut. Ich empfahl sie allgemeiner; sie fanden Beifall, hielten sich, wurden immer üblicher, zuletzt Lieblingskost in unsern Lagern, und hätten wir sie immer gehabt, viele würden erhalten worden sein.« In manchen Truppenteilen wütete die Diarrhoe, die bald der sogenannten »Roten Ruhr« wich, so stark, daß nicht exerziert und selbst der gewöhnliche Dienst kaum geleistet werden konnte. Es war »ein Laufen hinter die Front, als ob man allen Regimentern zugleich Abführmittel gegeben hätte«.
Regimentsarzt Christoph Heinrich Groß vom 2. württembergischen Infanterie-Regiment »Herzog Wilhelm« (3. Armeekorps, 25. Infanterie-Division) schreibt über die im wahrsten Sinne des Wortes Durststrecke zwischen dem 9. und 13. Juli: »Auf eine seit mehreren Tagen sehr beträchtliche und drückende Tageswärme trat wiederum sehr
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