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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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Sterbenden meist gnadenlos ihrem Schicksal. So mußten die Württemberger am 2. August 800 Kranke zurücklassen, berichtet Leutnant Christian von Martens in seinem Tagebuch. Die Straßen waren unsicher; die aus Marodeuren gebildeten Banden bekämpften sich untereinander, aber auch mit russischen Partisanen oder Deserteuren, denn der ständige Rückzug untergrub auch die Moral der russischen Armee. Husarenleutnant Rüppell sah bei Orscha eine Allee mit »recht hübschen Landhäusern«, von ihren Bewohnern verlassen, aus denen Verwesungsgeruch drang. Hier lagen die Leichen von Marodeuren, die entweder von ihren Konkurrenten umgebracht worden waren oder von russischen Partisanen. Wer sich von der Truppe entfernte, besaß kaum eine Überlebenschance.
    Um mit den Marodeuren fertig zu werden, hatte der Zar mit einem Ukas vom 6. Juli die Gründung von Milizen (Opolchenie) angeordnet. Ihre etwa 255 000 Kämpfer bestanden aus leibeigenen Bauern und Kosaken, die recht variabel uniformiert und bewaffnet waren. Manche trugen nur eine Pike und einen Knüppel, andere Gewehre, Pistolen, Säbel; es gab beritteneEinheiten und auch Kanonen. Ein an der Stirnseite der Mütze angebrachtes Messingkreuz wies den Träger als Mitglied einer Opolchenie aus, die sich nach Provinzzugehörigkeit gliederten. Hinzu kamen noch sieben Gruppen von Bauernpartisanen. Milizen und Partisanen kämpften nicht unmittelbar mit der Armee zusammen; sie bewachten die in den Gefechten und Schlachten gemachten Gefangenen, übernahmen Kurierdienste, und die Berittenen beobachteten unablässig die Bewegungen des Feindes und überfielen Transporte.
    Eduard Rüppell sah erstmals gefangene Milizen nach einem Gefecht bei Mir am 9. Juli: »Es waren fast lauter junge große Leute und verwundet. In ihren Mienen lag tiefer Schmerz, und alle starrten vor sich hin. Diese sogenannten Bauernkosaken waren berittene Milizsoldaten, deren ein jedes Gouvernement seine Banner zu stellen hatte; sie trugen graue Litewken und Reithosen und hatten eine hohe runde Mütze von grauem Tuch mit einem messingnen Kreuz, das auf russisch die Legende trug: Für Glaube und Vaterland .«
    Am 28. Juli fand in einem Gehöft 30 Kilometer östlich von Witebsk eine Besprechung zwischen Napoleon und seinen engsten Vertrauten statt. Anwesend waren: Generalstabschef Alexandre Berthier; Joachim Murat, Marschall von Frankreich und seit 1808 König von Neapel sowie Oberkommandierender der vier Kavallerie-Korps; Eugène de Beauharnais, Napoleons Adoptivsohn, Vizekönig von Italien und Kommandeur des 4. Armeekorps; Pierre Graf Daru, Chef der Verwaltung, und Armand de Caulaincourt, des Kaisers ungeliebter Berater. Ihre Bilanz des Feldzugs war deprimierend: Etwa 130 000 Soldaten hatte die Grande Armée seit Kriegsbeginn verloren: tot, verwundet, gefangen, erkrankt, desertiert, vermißt. Die Hälfte von Murats Reiterei galt als nicht mehr einsatzfähig, denn es mangelte an Pferden, von denen bislang etwa 80 000 der falschen oder unzureichenden Ernährung zum Opfer gefallenwaren. Es fehlte auch an Pferden und Zugochsen für die – längst liegengebliebenen – Versorgungswagen, sogar die Artillerie litt unter Pferdemangel, denn die verbliebenen Tiere waren zu geschwächt, um die schweren Geschütze noch ziehen zu können. In den früheren Feldzügen hatte man Pferde im Feindesland beschlagnahmt, aber die Russen sorgten bei ihrem Rückzug dafür, daß nicht ein einziges Pferd, ein einziger Zugochse zurückblieben. Es fehlte an Hufeisen und Nägeln, denn auch die Feldschmieden waren nicht nachgekommen. Der Zustand der Lazarette war katastrophal, den Ärzten mangelte es sogar an Verbandsmaterial – dabei hatte eine wirklich große Schlacht mit einigen Tausend Verwundeten noch gar nicht stattgefunden.
    »Es war kein Krieg, es war ein Wettrennen«, urteilte der wegen seiner Geradlinigkeit berühmte Adjudant Napoleons, General Jean Rapp. Die russische Armee ließ sich nicht einholen, die Vereinigung von deren 1. und 2. West-Armee vor Smolensk hatte die Grande Armée nicht verhindern können. Napoleon gab dafür seinem Bruder Jérôme die Schuld, dem das 8. Armeekorps unterstand. Der hatte in Grodno einige Tage halten lassen, weil die Soldaten den unaufhörlichen Gewaltmärschen nicht mehr gewachsen waren. Aber erschöpfte Soldaten waren in Napoleons Terminplan nicht vorgesehen. Empört über Jérômes Verspätung, entzog ihm der Kaiser das Kommando und schickte ihn am 16. Juli nach Kassel zurück. Doch die Schuld

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