Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
einen Schluck Tee. Ihr fiel nur eine Erklärung dafür ein, dass eine Frau zugleich mit ihrer Freundin und ihrem Freund brach. Hatte Jimmy sich etwa auf eine Affäre mit Vivien eingelassen? Hatte ihre Mutter deswegen ihre Verlobung gelöst und war davongelaufen, um ein neues Leben anzufangen? Das würde zumindest erklären, warum Henry Jenkins wütend war – allerdings nicht auf Dorothy; und es erklärte auch nicht, warum ihre Mutter so reuevoll von der Vergangenheit gesprochen hatte. Warum sollte sie es bereuen, dass sie ihr Leben in die Hand genommen und einen Neuanfang gewagt hatte – das zeugte doch von Mut. »Und was glauben Sie, was passiert war?«, fragte sie vorsichtig und stellte ihre Tasse ab.
Kitty hob ihre knochigen Schultern, aber die Geste hatte etwas Ausweichendes. »Dolly hat Ihnen also nichts davon erzählt?« In ihrem Gesichtsausdruck lag Verwunderung, aber auch so etwas wie heimliche Schadenfreude. Sie seufzte theatralisch. »Tja, sie war schon immer ein bisschen geheimnistuerisch. Und nicht alle Mütter haben ein inniges Verhältnis zu ihren Töchtern, nicht wahr?«
Susanna strahlte; ihre Mutter biss in ihren Scone.
Laurel wurde das Gefühl nicht los, dass Kitty ihr etwas vorenthielt. Als eins von vier Geschwistern hatte sie aber auch gelernt, wie man anderen ihre Geheimnisse entlockte. In solchen Fällen funktionierte nichts so gut wie überzeugend gespieltes Desinteresse. »Ich glaube, ich habe genug von Ihrer Zeit in Anspruch genommen, Mrs. Barker«, sagte sie und faltete ihre Serviette zusammen. »Danke, dass Sie sich mit mir unterhalten haben. Sie haben mir sehr geholfen. Lassen Sie es mich doch wissen, falls Ihnen noch etwas einfällt.« Sie stand auf und schob ihren Stuhl zur Seite. Ging in Richtung Tür.
Kitty stand auf und folgte ihr. »Wissen Sie«, sagte sie versonnen. »Wenn ich’s recht bedenke, war da noch etwas.«
Laurel konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Ach?«, sagte sie und wandte sich zu ihr um. »Was denn?«
Kitty kniff die Lippen aufeinander, als widerstrebte es ihr zutiefst, ihr Wissen preiszugeben, und als sei sie sich nicht sicher, wie es überhaupt zu dieser Situation hatte kommen können. In barschem Ton wies sie Susanna an, neuen Tee zu kochen, und nachdem ihre Tochter in der Küche verschwunden war, bugsierte sie Laurel an den Tisch zurück. »Ich habe Ihnen doch erzählt, wie Dolly sich verändert hat«, setzte sie an. »Das war wirklich schlimm. Richtig übellaunig ist sie geworden. Eines Abends, ein paar Wochen nach unserer Hochzeit, musste mein Mann wieder seinen Dienst antreten, und ich hatte mich mit ein paar Freundinnen, die ich von der Arbeit kannte, zum Tanzen verabredet. Eigentlich wollte ich Dolly gar nicht fragen, ob sie mitgeht – sie war ja zu nichts mehr zu gebrauchen –, aber dann hab ich’s doch getan, und überraschenderweise hat sie zugesagt. Nun, sie kam total aufgetakelt in den Tanzklub und war so aufgekratzt, als hätte sie sich zu Hause schon ein paar Whiskys genehmigt. Sie hatte eine Freundin dabei, eine, mit der sie in Coventry zusammen aufgewachsen war, Caitlin hieß sie, glaube ich. Die war anfangs ziemlich etepetete, aber nach einer Weile ist sie aufgetaut – Dolly ließ ihr ja auch keine andere Wahl. Wenn Dolly guter Dinge war, dann war ihre Ausgelassenheit ansteckend.«
Laurel lächelte, denn Kittys Beschreibung passte nur zu gut auf ihre Mutter.
»An dem Abend hat sie sich wirklich blendend amüsiert, das kann ich Ihnen sagen. Sie hatte so einen wilden Blick in den Augen, hat den ganzen Abend gelacht und getanzt und lauter komische Sachen erzählt. Als es Zeit war zu gehen, hat sie mich am Arm gepackt und mir gesagt, sie hätte einen Plan.«
»Einen Plan?« Laurel spürte, wie sich ihr die Nackenhaare sträubten.
»Sie meinte, Vivien Jenkins hätte ihr was ganz Gemeines angetan, aber sie wüsste jetzt, wie sie es ihr heimzahlen könnte. Sie und Jimmy würden ein glückliches Paar werden, und alle würden bekommen, was sie verdient hätten.«
Das stimmte mit dem überein, was ihre Mutter ihr erzählt hatte. Aber offenbar war nicht alles nach Plan gelaufen, und Dorothy hatte Jimmy nicht geheiratet. Und irgendetwas hatte Henry Jenkins in Wut versetzt. Laurel schlug das Herz bis zum Hals, aber sie bemühte sich, gelassen zu wirken. »Hat sie Ihnen auch gesagt, wie ihr Plan aussah?«
»Nein, das nicht, und ehrlich gesagt, habe ich auch damals nicht viel darauf gegeben. Im Krieg war alles anders. Die Leute erzählten
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