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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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Haar bürstete, und als sie schließlich eingeschlafen war, legte Laurel die Bürste so leise wie möglich zurück ins Regal. Sie zog die Häkeldecke ein bisschen höher und küsste ihre Mutter sanft auf die Wange.
    »Bis morgen, Ma«, flüsterte sie.
    Als sie gerade auf Zehenspitzen zur Tür schlich, darauf bedacht, kein raschelndes Geräusch mit ihrer Tasche zu machen, sagte eine schlaftrunkene Stimme hinter ihr: »Dieser Junge.«
    Laurel drehte sich überrascht um. Ihre Mutter hatte die Augen immer noch geschlossen.
    »Dieser Junge, Laurel«, murmelte sie.
    »Welcher Junge?«
    »Der, mit dem du dich triffst – Billy.« Sie öffnete die Augen, schaute sie mit verschleiertem Blick an und hob einen knochigen Finger. Ihre Stimme klang traurig, als sie leise sagte: »Glaubst du etwa, ich spürte so etwas nicht? Glaubst du, ich wäre nicht auch mal jung gewesen? Dass ich nicht wüsste, wie es ist, verliebt zu sein?«
    Laurel wurde klar, dass ihre Mutter sich in Greenacres wähnte und zu ihrer sechzehnjährigen Tochter redete. Sie fand die Situa tion verwirrend.
    »Hörst du mir zu, Laurel?«
    Laurel schluckte. »Ja, Mummy.« Sie hatte ihre Mutter schon lange nicht mehr Mummy genannt.
    »Wenn er dir einen Antrag macht und du ihn liebst, dann musst du Ja sagen … Hast du mich verstanden?«
    Laurel nickte. Ihr war ganz seltsam zumute, beinahe schwind lig, und sie schwitzte. Die Schwestern hatten ihr schon erzählt, dass ihre Mutter in letzter Zeit abwechselnd in der Vergangenheit und in der Gegenwart lebte, aber wie war sie jetzt dar auf gekommen? Warum fiel ihr ein Junge ein, den Laurel einmal ge kannt hatte, in den sie vor langer Zeit flüchtig verknallt gewesen war?
    Dorothys geschlossene Lippen bewegten sich, dann sagte sie: »Ich habe so viele Fehler gemacht … so viele Fehler.« Tränen liefen ihr über die Wangen. »Liebe ist der einzige Grund zu heiraten, Laurel. Du darfst nur aus Liebe heiraten.«
    Auf dem Korridor eilte Laurel als Erstes zur Toilette. Sie drehte am Waschbecken den Wasserhahn auf und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, dann stützte sie sich mit den Händen auf dem Beckenrand ab. Die feinen Risse im Porzellan rund um den Abfluss verschwammen. Sie schloss die Augen. Ihr Puls ging so heftig, dass ihr die Ohren dröhnten.
    Es war nicht nur die Tatsache, dass ihre Mutter mit ihr gesprochen hatte wie mit einem jungen Mädchen oder dass Erinnerungen an einen längst vergessenen Jungen, an ihre erste Liebe, hochgekommen waren. Es war die Art, wie sie es gesagt hatte, der Tonfall in der Stimme ihrer Mutter, die ihren reichen Erfahrungsschatz mit ihrer jugendlichen Tochter teilen wollte. Die Dringlichkeit, mit der sie Laurel ins Gewissen geredet hatte, nicht dieselben Fehler zu machen wie sie selbst.
    Aber es ergab keinen Sinn. Ihre Mutter hatte ihren Vater geliebt; das wusste Laurel mit absoluter Sicherheit. Sie waren, als ihr Vater starb, fünfundfünfzig Jahre verheiratet gewesen, ohne dass es auch nur den Anflug von Streit oder Unzufriedenheit in ihrer Ehe gegeben hatte. Wenn Dorothy aus irgendeinem anderen Grund geheiratet hatte, wenn sie die Entscheidung all die Jahre über bereut hatte, dann war es ihr auf bemerkenswerte Weise gelungen, allen etwas anderes vorzumachen. Niemand konnte so lange Theater spielen. Oder doch? Nein, natürlich nicht. Außerdem hatte Laurel hundertmal die Geschichte gehört, wie ihre Eltern sich kennengelernt und sich verliebt hatten; sie hatte das Gesicht ihrer Mutter gesehen, wenn ihr Vater erzählte, wie er sofort gewusst hatte, dass sie füreinander bestimmt waren.
    Laurel blickte auf. Aber Grandma Nicolson hatte ihre Zweifel gehabt. Laurel hatte als Kind immer gespürt, dass irgendetwas zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter nicht stimmte – eine Förmlichkeit im Umgang miteinander, der strenge Blick, mit dem Grandma Nicolson ihre Schwiegertochter betrachtete, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Und einmal, als Laurel ungefähr fünfzehn war und die ganze Familie zu Grandma Nicolson an die Küste gefahren war, hatte sie etwas gehört, was nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen war. An einem Vormittag war sie zu lange in der Sonne geblieben und war mit höllischen Kopfschmerzen und einem schlimmen Sonnenbrand auf den Schultern in die Pension zurückgegangen. Sie hatte in ihrem verdunkelten Zimmer gelegen, mit einem feuchten Waschlappen auf der Stirn und heftigem Druck auf der Brust, als Grandma Nicolson und Miss Perry, eine ältere Dame, die bei ihr

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