Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
logierte, über den Flur gegangen waren.
»Sie können wirklich stolz auf ihn sein, Gertrude«, sagte Miss Perry gerade. »Er ist schon immer ein guter Junge gewesen.«
»Ja, er ist ein Goldstück, mein Stephen. Er packt hier mehr mit an, als sein Vater es je getan hat.« Grandma hatte das zustimmende Grunzen ihrer Begleiterin abgewartet und dann hinzugefügt: »Und gutherzig ist er. Konnte nie einer Streunerin widerstehen.«
Das hatte Laurels Interesse geweckt. Die Worte enthielten eine Anspielung auf frühere Gespräche, und offenbar wusste Miss Perry ganz genau, was Grandma damit andeuten wollte. »Nein«, sagte Miss Perry. »Der Junge musste ja schwach werden. Bei einer solchen Schönheit.«
»Eine Schönheit? Na ja, wenn einem so etwas gefällt. Ein bisschen zu …« Grandma überlegte, und Laurel spitzte die Ohren, neugierig, welches Wort sie wählen würde. »… ein bisschen zu reif für meinen Geschmack.«
»O ja.« Miss Perry machte einen Rückzieher. »Da haben Sie allerdings recht. Überreif. Aber sie hat sofort gerochen, dass Ihr Sohn ein guter Fang war, nicht wahr?«
»Allerdings.«
»Und sie hat gleich gewusst, dass er ein gutes Herz hat.«
»In der Tat.«
»Wenn man bedenkt, dass er ein nettes Mädchen aus dem Dorf hätte heiraten können, die kleine Pauline Simmonds. Ich dachte immer, sie wäre in ihn verliebt gewesen.«
»Natürlich war sie das«, sagte Grandma aufgebracht. »Die beiden waren wie füreinander geschaffen. Aber wir hatten nicht mit Dorothy gerechnet. Die arme Pauline hatte keine Chance, nicht gegen eine wie sie. Die wusste genau, was sie wollte.«
»Ach Gott.« Miss Perry kannte ihren Einsatz und ihren Text. »Was für eine Schande.«
»Sie hat ihn verhext, sage ich Ihnen. Mein armer Junge wusste gar nicht, wie ihm geschah. Natürlich hat er sie für ein unschuldiges Ding gehalten, und wer hätte es ihm verdenken sollen? Er war ja gerade erst ein paar Monate aus Frankreich zurück, als sie geheiratet haben. Sie hat ihm den Kopf verdreht. Sie ist eine, die immer bekommt, was sie will.«
»Und sie wollte ihn.«
»Sie suchte nur einen Unterschlupf, und den hat mein Sohn ihr geboten. Und kaum waren sie dann verheiratet, hat sie ihn von hier fortgelockt, und er musste in diesem heruntergekommenen Bauernhaus noch mal ganz von vorn anfangen. Ich gebe mir die Schuld daran.«
»Das dürfen Sie nicht.«
»Ich habe sie schließlich in dieses Haus geholt.«
»Es war Krieg, es war nahezu unmöglich, gutes Personal zu bekommen – das konnten Sie doch nicht wissen.«
»Aber das ist es ja gerade. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte mich informieren müssen. Ich war viel zu vertrauensselig. Zumindest anfangs. Ich habe Erkundigungen über sie eingezogen, aber erst hinterher, und da war es zu spät.«
»Wie meinen Sie das? Wofür zu spät? Was haben Sie denn herausgefunden?«
Aber was auch immer Grandma Nicolson in Erfahrung gebracht hatte, blieb Laurel verborgen, denn die beiden alten Damen waren bereits außer Hörweite gewesen, als ihre Großmutter die Frage beantwortet hatte. Eigentlich hatte es Laurel auch damals nicht sonderlich interessiert. Grandma Nicolson war eine prüde, herrschsüchtige Frau, die ihrer ältesten Enkelin das Leben schwermachte, indem sie ihren Eltern brühwarm erzählte, wenn sie einen Jungen am Strand auch nur von der Seite anschaute. Was auch immer Grandma angeblich über ihre Mut ter herausgefunden hatte, konnte nur eine Übertreibung oder eine gemeine Unterstellung sein, dachte Laurel, während sie dagelegen und ihre Kopfschmerzen verflucht hatte.
Aber jetzt – Laurel trocknete sich Gesicht und Hände ab – war sie sich da auf einmal nicht mehr so sicher. Die Mutmaßungen ihrer Großmutter – dass Dorothy womöglich vor etwas fortgelaufen war, dass sie nicht so unbescholten war, wie es den Anschein hatte, dass ihre überstürzte Heirat einem bestimmten Zweck gedient hatte – schienen irgendwie zu dem zu passen, was ihre Mutter ihr soeben erzählt hatte.
War Dorothy Smitham vor einer aufgelösten Verlobung auf der Flucht gewesen, als sie in Mrs. Nicolsons Pension aufgetaucht war? War es das, was Grandma herausgefunden hatte? Wenn Dorothy vor ihrer Ehe schon eine Beziehung zu einem Mann gehabt hätte, wäre das sicherlich ausreichend gewesen, um Grandma gegen sie einzunehmen, aber über so etwas würde Dorothy nicht sechzig Jahre später Tränen vergießen (noch dazu Tränen der Reue, denn sonst hätte Dorothy nicht von Fehlern gesprochen,
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