Die Verlorenen von New York
sonstige Informationen, in der Hoffnung, dass ihm dort vielleicht jemand helfen konnte, seine Mutter ausfindig zu machen. Die Musik am anderen Ende der Leitung wirkte fast schon surreal. Der erste Song ging zu Ende, dann ein zweiter, ein dritter und ein vierter – lauter schnulzige Balladen, wie Bri sie gern hörte. Beim siebten Stück begann Alex sich zu fragen, wie lange er sich das wohl noch anhören müsste. Und beim zwölften stellte er sich vor, wie gleich seine Mutter durch die Tür kommen würde, während er immer noch in der Warteschleife hing.
Mitten im fünfzehnten Stück kam dann plötzlich eine Frauenstimme: »Krankenhaus St. John of God.«
Alex schlug das Herz bis zum Hals. »Guten Tag«, sagte er so ruhig wie möglich. »Meine Mutter arbeitet bei Ihnen als OP -Schwester, ihr Name ist Isabella Morales. Ich wollte fragen, ob ich sie vielleicht sprechen kann.«
»Unter gar keinen Umständen«, sagte die Frau. »Wir müssen die Leitungen für Notrufe frei halten. Privatgespräche sind nicht erlaubt.«
»Schon klar«, beeilte sich Alex zu sagen, weil er fürchtete, die Frau könnte gleich wieder auflegen. »Ich muss auch nicht unbedingt mit ihr sprechen. Ich wollte nur wissen, wie es ihr geht. Sie wurde Mittwochabend dringend ins Krankenhaus gerufen. Sie wissen nicht zufällig, ob sie irgendwo im Haus ist?«
»Tut mir leid«, sagte die Frau. »Ich habe leider überhaupt keinen Überblick, wer hier ist und wer nicht.«
»Aber irgendwer muss das doch wissen«, sagte Alex. »Sie hat am Mittwochabend so um halb zehn die U-Bahn genommen, und seitdem haben wir nichts mehr von ihr gehört.«
»Verstehe«, sagte die Frau. »Aber hier herrscht ein unglaubliches Chaos, und das schon seit Mittwoch. Zurzeit arbeiten alle rund um die Uhr. Ich war auch seit Mittwoch nicht mehr zu Hause. Ich habe keine Zeit, nach deiner Mutter zu suchen.«
»Könnten Sie mich nicht wenigstens mit jemandem verbinden?«, fragte Alex und versuchte, die Verzweiflung in seiner Stimme zu unterdrücken. »Mit jemandem in der Chirurgie?«
»Die nehmen keine Anrufe an«, sagte die Frau. »Und ich kann jetzt auch nicht länger mit dir sprechen.«
»Nur eine Frage noch«, flehte Alex. »Seit wann funktioniert Ihr Telefon wieder? Seit wann können Sie wieder raustelefonieren?«
»Seit gestern Nachmittag«, antwortete die Frau. Sie schwieg einen Moment. »Ich werde für dich und deine Mutter beten«, sagte sie. »Isabella Morales war der Name?«
»Ja, genau«, erwiderte Alex.
»Gib mir deine Telefonnummer«, sagte sie. »Wenn ich jemand treffen sollte, der etwas über sie weiß, dann melde ich mich bei dir.«
»Danke«, sagte Alex. »Ich danke Ihnen sehr.« Er gab ihr die Telefonnummer durch und erst, als er hörte, dass am anderen Ende aufgelegt wurde, legte er selbst den Hörer auf.
Das Telefon funktionierte schon seit gestern wieder. Irgendwann in den letzten vierundzwanzig Stunden hätte Mamá doch eine Gelegenheit finden müssen, zu Hause anzurufen. Alex hörte den Anrufbeantworter ab. Keine neuen Nachrichten. Sicherheitshalber drückte er noch die 1 , aber alte Nachrichten gab es auch keine mehr.
Mamá hätte auf jeden Fall angerufen. Irgendwie hätte sie die Zeit dafür gefunden.
Oder hatte sie vielleicht bei Onkel Jimmy angerufen? Alex wählte die Nummer und Tante Lorraine nahm ab.
»Hi«, sagte er. »Hier ist Alex. Wie sieht’s aus bei euch?«
»Wie soll’s schon aussehen, wenn die Welt untergeht?«, entgegnete Tante Lorraine. »Meine Kinder werden niemals alt genug werden, um selber Kinder zu bekommen. Gott hat uns verlassen, und du fragst mich, wie’s aussieht?«
Alex wartete ab, ob sie auch wirklich fertig war. »Wir waren heute Morgen alle in der Kirche, Bri, Julie und ich«, sagte er dann. »Es war also niemand zu Hause, um ans Telefon zu gehen, deshalb wollte ich fragen, ob Mamá vielleicht bei euch angerufen hat. Wir haben seit Mittwoch nichts mehr von ihr gehört.«
»Ich bin auch zur Messe gegangen, aber Jimmy war zu Hause«, sagte Tante Lorraine. »Warte, ich frag ihn mal. Jimmy! Hat deine Schwester heute Morgen angerufen? Alex ist dran. Isabella wird vermisst.«
»Das hab ich nicht gesagt«, murmelte Alex, aber es war auch egal. Jimmy nahm seiner Frau den Hörer aus der Hand.
»Hallo, Alex«, sagte er. »Isabella wird vermisst?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Alex. »Sie ist am Mittwoch zum Krankenhaus gefahren und seitdem haben wir nichts mehr von ihr gehört. Ich habe gerade dort angerufen, aber die
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