Die Verlorenen von New York
unverletzt, aber sie kann sich einfach nicht mehr daran erinnern, wie sie heißt und wo sie wohnt und so was. Wer Amnesie hat, kann nun mal nicht zu Hause anrufen. Aber irgendwann kommt ihre Erinnerung bestimmt zurück. Vielleicht wird sie von jemandem hypnotisiert, oder sie kriegt einen zweiten Schlag auf den Kopf, oder sie landet in einer psychiatrischen Abteilung, wo jemand aus ihrem Krankenhaus sie wiedererkennt, und der meldet sich dann bei uns. Könnte doch sein, Alex, oder?«
Alex schaute Bri an. Er brachte es nicht fertig, ihr zu widersprechen. »Das wäre allerdings ein Wunder«, sagte er nur.
»Aber es geschehen doch auch immer wieder Wunder«, sagte Bri. »Und dafür bete ich jetzt. Ich bete zu la Madre und zum Heiligen Judas Taddäus, dass Mamá Amnesie hat und dass sie ihr Gedächtnis wiederfindet und nach Hause kommt.«
»Ich bete immer zur Jungfrau von Orléans«, sagte Julie. »Sind die Spaghetti schon alle? Ich hab noch Hunger.«
»Der Rest ist für morgen«, sagte Alex. »Du hast deinen Teil gehabt und sogar noch mehr.«
»Ich hab noch was übrig«, sagte Bri. »Willst du das haben, Julie?«
»Nein«, sagte Alex. »Das isst du selber auf, Bri. Und wieso betest du ausgerechnet zur Jungfrau von Orléans, Julie?«
»Weil sie auch eine Heilige ist«, antwortete Julie beleidigt. »Wenn Bri keinen Hunger mehr hat, warum darf ich dann nicht ihre Spaghetti aufessen?«
Weil du in der Bodega nicht genug davon eingepackt hast! , hätte Alex am liebsten geschrien. Weil du wohl kaum von Bri verlangen kannst, dass sie dir zuliebe verhungert.
»Weil du sowieso schon einen Nachschlag hattest«, sagte er stattdessen. »Auf Amnesie bin ich überhaupt noch nicht gekommen, Bri. Wahrscheinlich laufen in New York gerade ziemlich viele Leute mit einem Schock herum. Wie die Soldaten mit Granatenschock im Ersten Weltkrieg. Der heilige Judas hat sicher alle Hände voll zu tun, wenn er für jeden Fürsprache einlegen will, der zu ihm betet. Von daher könnte es mit dem Wunder vielleicht noch ein bisschen dauern. Das Wichtigste ist jetzt, dass wir bei Kräften bleiben und nicht die Hoffnung aufgeben.«
»Wenn der heilige Judas so beschäftigt ist, dann bete ich doch lieber zur heiligen Jungfrau von Orléans«, sagte Julie.
»Aber Judas Taddäus ist der Schutzpatron der Hoffnungslosen und Verzweifelten«, erklärte Bri. »Und Mamá ist sicher ziemlich verzweifelt, da müsste er sich doch ganz besonders für sie interessieren. Und für alle anderen Leute, denen es wie ihr geht. Die mit Amnesie und Granatenschock.«
»Johanna von Orléans ist die Schutzheilige der Soldaten«, sagte Julie. »Ich hab letztes Jahr ein Referat über sie gehalten. Da müsste sie für Leute mit Granatenschock doch genau die Richtige sein.«
»Aber Mamá hat keinen Granatenschock, sondern Amnesie«, widersprach Bri.
Alex hatte ein schlechtes Gewissen, weil ihm diese ernst gemeinte Diskussion über Heilige so albern vorkam. »Julie, du räumst den Tisch ab«, sagte er. »Und dann macht ihr beide den Abwasch. Ich bin in meinem Zimmer.«
»Und was machst du da?«, fragte Julie.
»Beten«, sagte Alex und ging rasch hinaus, damit er seinen Schwestern nicht sagen musste, dass er um die Kraft beten würde, sie beide zu ertragen, und um Vergebung dafür, dass er keine Lust dazu hatte.
Samstag, 4 . Juni
Der Strom war wieder ausgefallen, aber am späten Nachmittag drang selbst in ihre Kellerwohnung so viel Sonnenlicht, dass man keine Kerzen oder Taschenlampen brauchte. Bri und Julie hockten auf dem Sofa und blätterten in einer Zeitschrift, während Alex im Sessel saß und im Radio die Nachrichten hörte. Lower Manhattan, bis hinauf zur Houston Street, war wegen der ständigen Überflutungen evakuiert worden. In Northridge, Kalifornien, hatte man in einer Kirche die Leichen von 112 Männern, Frauen und Kindern gefunden, der vermutlich dritte Massenselbstmord im Raum Los Angeles innerhalb einer Woche. Bei Plünderungen in Tokio waren mindestens acht Menschen ums Leben gekommen und es gab Gerüchte über eine Revolution in Russland.
»Und der gefällt dir?«, fragte Bri. »Den findest du süß?«
Julie nickte. »Ich dachte, du auch«, sagte sie. »Als der vor einer Weile mal im Fernsehen war, hast du gesagt, du findest ihn toll.«
»So toll nun auch wieder nicht«, sagte Bri. »Außerdem war ich da ja noch viel kleiner.«
»Was?«, fragte Julie, und ihre Stimme wurde schrill. »Soll das heißen, dass ich noch ein Baby bin? Dass nur Babys ihn
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