Die Verlorenen
geschah, veränderte sich. Der Sumpf veränderte sich.
Die Fesseln aus Schlamm und Morast, die sie seit nahezu 150 Jahren banden und ihnen nur geringe Bewegungen erlaubt hatten, lockerten sich .
... und lösten sich schließlich.
Die vermeintlich Toten erhoben sich aus nassen Gräbern und schlammigen Pfuhlen.
Sie kehrten zurück in die Welt über den Sümpfen, um sich im Reich der Lebenden zu holen, was sie jahrelang und in rationierter Form von Leichnamen hatten nehmen müssen, die in der Tiefe die Zeit überdauert hatten.
Von den ehemals Hunderten von Menschen - Dienerkreaturen! -waren nur wenige Dutzend übrig geblieben. Viele hatte der Sumpf hinabgezogen in den endgültigen Tod, hatte sie zerquetscht und zersetzt und eins werden lassen mit dem Morast - vor allem jene, die sich selbst aufgaben und die Vernichtung ihrer verderbten Existenz herbeisehnten.
Guillaume hatte sich bemüht, so viele wie möglich vor dem Ende zu bewahren, indem er Zwiesprache mit ihnen hielt, ihnen Hoffnung machte und einen Teil seiner Kraft auf seine Diener übertrug. Doch er mußte haushalten damit, und so waren im Laufe der Jahrzehnte mehr und mehr seiner Diener dem Zerfall anheim gefallen.
Als Guillaumes Dienerheer losmarschierte, um fortzusetzen, was vor 134 Jahren in einer einzigen Nacht ein jähes Ende gefunden hatte, waren es noch gut vierzig Kreaturen. Auch der Vampir selbst kroch aus dem brackigen Wasser, als sich der Griff des Sumpfes endlich gelöst hatte.
Er hatte kaum weniger gedarbt als seine Kreaturen. Nur hatte er es eher hingenommen. Weil er wußte, daß seine Zeit irgendwann kommen würde. Während jene, die sein Biß zu dem gemacht hatte, was sie waren, sich nicht damit abfinden wollten, ihr gerade erst neugewonnenes Leben auf solch unwürdige Weise zu fristen.
Das Warten und sein Wirken zu ihrem Wohle hatte sich für die »Überlebenden« gelohnt.
Sie waren zurück.
Guillaume begleitete seine jenseitige Armee, denn sie hatten das gleiche Ziel.
Richtung New Orleans, bis sie auf erste Menschen stießen, auf frisches Blut, das ihre morschen Körper neu beleben würde. Wahrscheinlich war es nicht notwendig, bis in die Stadt selbst vorzudringen. Das wäre in ihrer jetzigen Verfassung auch fatal gewesen. Regte sich Abwehr, würden sie ihr kaum widerstehen können. Noch waren sie zu schwach, um den Krieg zu beginnen.
Doch während sich seine Diener also auf die Vororte der Millionenstadt beschränken würden, wo sie rasch zuschlagen konnten, ohne große Aufmerksamkeit zu erregen, verfolgte Guillaume ein anderes Ziel - mitten in der Stadt. Denn er hatte etwas zu erledigen.
Jemanden!
134 Jahre waren für einen Vampir nicht lange genug, um etwas in Vergessenheit geraten zu lassen. Zumal dann nicht, wenn er so überreichlich Muße zum Nachdenken fand wie Guillaume.
*
Die Rückkehr der Verlorenen ging nicht unbemerkt vonstatten.
Zwei dunkle Augenpaare beobachteten aus sicherer Entfernung, was aus den Sümpfen kroch.
Aus jedem Tümpel und Loch kamen sie hervor - triefende Gestalten mit seltsam glosenden Augen, die Haut vollgesogen mit fauliger Nässe, deren Gestank bis zu den beiden Zuschauern herübertrieb, die Brandungswelle einer Flut längst toter Leiber.
»Ist er dabei?« Levar wandte, auf dem Bauch liegend, den Kopf und sah Zefrem fragend an.
Der Alte nickte. »Ich sehe ihn.«
»Dann geh hin zu ihm, zu deinem Herrn«, sagte Levar ermutigend. »Du wartest seit vielen Jahren darauf. Jetzt kannst du es.«
Zefrem schwieg.
Es war seltsam. Der Junge hatte recht, auch wenn er sein Wissen nur von Zefrem selbst bezogen hatte. In all der langen Zeit hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als daß der stummen Zwiesprache mit seinem in sumpfiger Tiefe gefangenen Herrn endlich ein persönlicher Kontakt folgen mochte. Und nun, da er die Möglichkeit dazu hatte, wollte er es nicht mehr. Nicht wirklich jedenfalls.
Zefrem wußte, woher der plötzliche Gesinnungswandel rührte.
Seine »Brüder und Schwestern« waren der Grund.
Sie waren so - anders als er selbst.
Er konnte ihren Zorn spüren, ihre Gier und Wildheit, die sie Tieren ähnlich machte. Alles Emotionen, die er im Laufe der endlosen Jahre nie entwickelt hatte. Er hatte sich, hier oben auf sich selbst gestellt, mit den Dingen und dem Leben arrangiert. Er lebte - friedlich. Und zufrieden.
Bis heute.
Denn diese Nacht, das wußte er, konnte sein Leben grundlegend verändern.
Weil er nicht mehr allein, nicht mehr der einzige war.
Andere wie er, die ihm
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