Die Vermessung der Lust (German Edition)
Mitarbeitern.
ER. Sie traf sich wieder mit ihm, das musste es sein. Oh mein Gott. Ihm kamen die Tränen, er merkte es nicht. Sah weiterhin nach draußen, wo ein Lieferwagen entladen wurde, große Holzkisten, mannshoch, jetzt nahm er es wahr, die sahen aus wie Käfige, in denen Menschen saßen und raus wollten. Er hatte zu schluchzen begonnen wie ein hormonell unausgeglichenes Mädchen bei »Titanic«, wenn Leonardo Di Caprio endgültig mit Salzwasser gurgelt. Doch der Film in Lars' Kopf war anders, härter, ein Porno der absonderlichsten Art, Madeleine Vulpius kniend, den Mund zu voll nehmend.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Lars hatte Schiffler nicht kommen hören. Der Professor balancierte seine Tasse mit ziemlichem Ungeschick, auf dem Unterteller schwappte ein brauner See. Der Doktorand sah erschrocken auf, Schiffler war wie ein undeutlicher Schatten hinter einer Regenwand, mein Gott, er hatte tatsächlich geheult!
Schiffler setzte sich und betrachtete den anderen nachdenklich. Vielleicht war es das, was den Ausschlag gab. Dass Schiffler schwieg, zum ersten Mal in seinem Leben keinen sarkastischen Kommentar, aus dem die Arroganz triefte, auf die Reise schickte. Vielleicht war es auch etwas ganz anderes, jedenfalls: Lars redete, stockend und langsam, umständlich. Es musste einfach raus.
Und Schiffler hörte zu, nickte, sagte »oh«, »ah«, »hm«, »mein Gott«. Lars wurde ruhiger, seine Tränen waren versiegt und getrocknet, nur an der Stelle mit der Hand auf Madeleines Knie verhaspelte er sich ein wenig, doch Schiffler lächelte nur leicht und verzeihend, sagte »na ja«.
Sie tranken einen weiteren Kaffee zusammen, den Lars holen musste, er schlürfte das Zeug nicht gerne von der Untertasse. Dann sagte Schiffler: »Okay, junger Mann. Wir sollten der Sache auf den Grund gehen. Kommen Sie.«
Nüchterne Forschung
Die anfängliche Überraschung war kreativem Arbeitseifer gewichen. Dora machte sich Notizen, das war ihre Versuchsreihe, ihr Baby. Als erstes musste sie Probanden rekrutieren, Schwule und Lesben, das dürfte aber kein Problem sein. An der Uni gab es entsprechende Gruppen, man würde sie kontaktieren, Vertrauen herstellen, geeignete und willige Personen finden. Schließlich mussten Schwule und Lesben ein Interesse daran haben zu erfahren, nach welchen Attraktivitätssignalen sie triebmäßig funktionierten.
Frau Professor war ihr heute Morgen auf eine merkwürdige Weise gelassen vorgekommen, ein Zustand, den man normalerweise nach einem gehörigen Quantum guten Sex erreichte. Die Vulpius und Sex? Das konnte sich Dora nicht vorstellen. Natürlich, sie war eine sehr attraktive Frau. Und verheiratet. Zwar mit einem wesentlich älteren Mann, dennoch musste es in ihrem Leben einmal Sex außerhalb psychologischer Lehrbücher gegeben haben.
Dora lächelte. Es gab Menschen, die sich von den körperlichen Trieben emanzipierten und sie ins Geistige auslagerten. Das nannte man Sublimation, wie jedes Erstsemester der Psychologie wusste. Schriftsteller, Philosophen und Wissenschaftler: Sie alle begannen eines Tages, die Fleischeslust durch die Denklust zu ersetzen, den Furor der Begierde in die Schranken nüchternen Denkens und Forschens zu verweisen. Solche Menschen definierten Orgasmus als das abrupte Aufleuchten von Erkenntnis. Wenn etwa ein Philosoph nach längerem Grübeln herausfand, warum Menschen an Gott glaubten, dann überkam ihn diese Erkenntnis – wie ein Orgasmus eben.
Ach, dumme Gedanken. Dora schüttelte sich. Lars war verschwunden, sie hatte gar nicht bemerkt, wie er das Zimmer verlassen hatte. Wahrscheinlich Richtung Mensacafé. Lars. Armer Kerl. Er glaubte wohl, ihr einen Orgasmus verschafft zu haben, was auch irgendwie stimmte, in Wahrheit jedoch hatte Dora ihn als mechanisches Werkzeug benutzt, wie einen Dildo eben. Oder eine Salatgurke. Dora kicherte in sich hinein. Simone. Heute Abend. Die Erforschung sexuellen Neulands. Wie trieben es Frauen miteinander? Anders? Mehr zärtliches Vorspiel, mutmaßte Dora, schließlich mussten sie nicht den Moment der Erektion eines Gliedes in ihre Berechnungen mit einbeziehen. Was fand sie an Simone eigentlich attraktiv? An Frauen überhaupt?
Gar nichts, lautete die überraschende Antwort. Jedenfalls nichts, was man beschreiben konnte, nichts Äußerliches, vielleicht also etwas Spirituelles. Sie war durch Simones bloße Gegenwart irgendwie gepackt worden, ja, das musste es sein. Die Libido, dieser weitgehend noch unentdeckte Kontinent, reagierte auf
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