Die Vermessung der Lust (German Edition)
endlich vorbei war, durfte man sich so viel Obst und Gemüse mitnehmen wie man wollte.
Mit schwerer Tasche verließ Simone den Laden. Das Seminar um zwei würde sie heute sausen lassen. Erst mal heim und ausgiebig baden, bis die Haut schrumplig wurde, dann sich beruhigen, nicht an heute Abend denken. Das war natürlich ein frommer Wunsch, der sich nicht erfüllen würde. Dora hockte in ihrem Kopf, in immer neuen Posen, manchmal allein, manchmal mit der Kopfbesitzerin zusammen, dann wurde es leicht pornografisch. Man sollte sich ablenken, aber wie? Sie könnte...
»Entschuldigung«, sagte der Mann. Mein Gott, er hatte sie erschreckt! Es war Vulpius, was wollte der von ihr? Sie stammelte nur »Ah ja...hm... für was?« und lächelte ganz automatisch, vielleicht weil Vulpius Gesicht wie das eines alten, treuen Hundes aussah, der etwas ausgefressen hatte und nun auf seine Bestrafung wartete.
»Weil ich sie einfach so anspreche«, antwortete Vulpius, »aber es beschäftigt mich halt. Woher kennen Sie meinen Namen?«
Sie sagte es ihm. Er schien enttäuscht. Sie gingen nebeneinander die Straße zu den Bushaltestellen runter.
»Darf ich Ihnen die Tasche abnehmen?«, fragte Vulpius, Simone schüttelte den Kopf. »Da vorne sind doch schon die Busse. Aber danke.«
Er bot ihr an, sie nach Hause zu fahren und endete wieder mit »Entschuldigung«. »Warum entschuldigen Sie sich immer?«, fragte Simone, ein wenig gereizt, sofort lächelte sie es weg. War doch süß, irgendwie. Und völlig ungewohnt.
»Weil...«, setzte Vulpius an, »weil Sie jetzt natürlich denken, was will der alte Mann von mir? Will er mich anmachen? Ich kann Ihnen versichern...«
»Und? Wollen Sie?« So direkt und kess war sie sonst eigentlich nicht. Aber die Situation gefiel ihr, sie hatte seit drei Minuten nicht mehr an Dora gedacht.
Vulpius blieb stehen. »Ach was. Ich...« Er ging weiter, da vorne waren schon die Haltestellen, viele Menschen. Wenn wir dort sind, ist alles vorbei, dachte Simone. Eigentlich hatte sie keine Lust auf den Bus. Der würde voll sein, stinken, sie bekäme keinen Sitzplatz, ihre Füße taten weh.
»Wenn Ihr Angebot noch gilt...«
Sein Wagen stand im Parkhaus. »Haben Sie Feierabend heute?«, fragte Vulpius, als sie die Rampe hinunterfuhren. »Uni?«
Simone schüttelte den Kopf. »Ich muss dringend in die Badewanne. Treffe mich heute Abend mit einer Freundin.« Das klang neutral. Mit einer Freundin, mehr nicht.
»Oh«, sagte Vulpius, »dann wünsche ich Ihnen viel Spaß.« Simone bedankte sich.
Vor dem Haus, in dem sie wohnte, hielt der Wagen, der Motor lief weiter. Simone bedankte sich abermals. »Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte sie, ohne zu wissen warum. Ach was, Sie wusste es. Höflichkeit, weiter nichts. Das war ein alter Mann, kultiviert, freundlich. Keine Gefahr. Er würde auch nicht über sie herfallen.
Vulpius zuckte zusammen, damit hatte er nicht gerechnet. Es amüsierte Simone.
»Ja... gerne«, sagte er und starrte durch die Windschutzscheibe auf einen imaginären Punkt am Horizont, zwischen der Zellstofffabrik und dem Kirchturm.
Er trug selbstverständlich ihre Tasche, sie war wirklich schwer. »Gemüse? Obst? Sie wollen bestimmt noch kochen.« Simone lachte. Sie konnte nicht besonders gut kochen, ehrlich gesagt: gar nicht. Das sagte sie Vulpius.
»Ich kann ja für Sie kochen«, schlug er vor und wurde rot. Mein Gott, wie süß! »Sie nehmen in aller Ruhe Ihr Bad und ich koche ein Gemüseallerlei. Sie haben...« Er öffnete die Tasche und sah hinein. »... Auberginen, Zuccinis, Tomaten, Möhren. Das wird lecker. Haben Sie Crème fra î che im Haus?«
Hatte sie. Keine Ahnung, ob es noch haltbar war.
Interviews
Dora sah sich um. Einige Pärchen, einige palavernde Grüppchen, Studierende, die beinahe in ihre Laptops krochen. Keine Spur von einer Kampflesbe mit Haaren auf den Zähnen und knapp über der Oberlippe. Hinten links saß ein zierliches blondes Mädchen mit Locken wie aus einem Katalog für Schutzengel, dachte Dora, und dieses überirdische Wesen winkte sie herbei.
»Dora? Hi, ich bin Ariane. Warte, ich hole uns Kaffee. Setz dich schon mal.« Dora war sprachlos und setzte sich. Huch, ein Engel als studentische Oberlesbe. Wenigstens konnte sie nicht mit glockenheller Stimme Choräle singen, allenfalls rauchige französische Chansons.
Als Ariane mit dem Kaffee zurückkam, redeten sie über all die Dinge, über die junge studierende Frauen reden. Sie lobten die Frisur der anderen, schimpften
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