Die Vermessung der Lust (German Edition)
nicht süchtig machte, wie die anderen Mädchen aus ihrer Klasse behauptet hatten (mit Ausnahme von Eugenia Mahlke natürlich, die später bei den Zeugen Jehovas austrat und heute in einer Landkommune lebt).
Sie sollte jetzt nicht weiter daran denken. Noch war die Arbeit am Gemüse ungewohnt, sie musste sich konzentrieren. Die Horrorvision: Dora käme in den Laden und würde eine Salatgurke kaufen. Oder eine Zuccini. Oder einen Bund Möhren oder, das allerschlimmste, zwei Melonen. Sie durfte jetzt nicht an Doras Brüste denken, sowieso nicht an Gemüse und seine sexuelle Bedeutung (was übrigens ein hübsches Thema für eine Diplomarbeit wäre) und generell nicht an Sex.
Die Menschheit dachte zu viel an Sex, ja, eigentlich dachte sie nur daran. Sex, Sex, Sex. Tiere taten das nicht, sie beschränkten sich auf die Brunftzeit (die meisten jedenfalls) und dann lag es vor allem am Männchen, seine Partnerin durch allerlei Angeberei zu erobern. Den Rest des Jahres beschäftigte man sich mit Fressen und Vorkehrungen, nicht selbst gefressen zu werden.
Der Mensch war ein Irrläufer der Evolution, er... doch, der Endiviensalat ist ganz frisch, nein, ungespritzt, aus der Region, garantierte Bioqualität. Sie lächelte die Kundin dankbar an, froh, bei einem anderen Thema zu sein.
*
Als Silvio Bergengruen an diesem Morgen erwachte, wusste er es: Er war verliebt. Unsterblich! Er würde um diese geile Schnitte kämpfen, das heißt: musste er das überhaupt? Gestern Abend – so etwas nannte man in den einschlägigen Filmen absolute Hörigkeit. »Willige Stuten unter wilden Hengsten«, ein Klassestreifen, er musste schauen, ob er ihn im Internet noch einmal fand.
Erst einmal ins Bad. Ob er duschen sollte? Ja, sie war Professorin, sie hatte es sich verdient. Ein Ausnahmeweib, er würde auf dominant machen, sie nachher anrufen, »komm vorbei, du Schlampe« ins Handy bellen – und sie täte es. Von ihren Hormonen gesteuert wie ein willenloses technisches Gerät, der Toaster zum Beispiel. Kaum in der Wohnung, würde sie schon vor ihm knien, um den Duft von Fichtennadelschaumbad zu genießen. Allein daran zu denken, brachte Bergengruen schier um den Verstand. Naja, duschen wäre vielleicht ein wenig übertrieben. Gründlich waschen untenrum, das musste genügen, irgendwo musste er auch noch das Stück Seife haben, Weihnachten 2002, Tante Beatrices Geschenk.
Lars hatte schnell ein paar Stichworte in den Computer getippt. Zwangsneurose. Frühkindliche Traumatisierung. Auflehnen des pubertierenden Gehirns gegen jegliche Form des Ästhetischen, ein Zustand, der quasi als ein verbackenes Überbleibsel einer an sich bewältigten Phase im Unbewussten hauste und jetzt, angesichts des völlig unästhetischen Silvio Bergengruen irgendwie erwacht war. Genaueres musste erforscht werden.
Dora war erschienen, hatte »Guten Morgen« gesagt und sich sogleich zur Professorin begeben. Als sie zurück kam, wirkte sie irgendwie beschwingt und zugleich nachdenklich. Oder bildete er sich das nur ein? Er schrieb weiter. Madeleine Vulpius hatte ihm in allen Details beschrieben, wie sie Bergengruen befriedigte und sodann von diesem auf nicht einmal ungeschickte Art genommen worden war. Orgasmus? Und wie! Sie habe solche Orgasmen bisher nur aus der Fachliteratur gekannt beziehungsweise, wenn sie ihr von Leuten geschildert wurden, als Wunschträume belächelt. Der Orgasmus sei praktisch wie ein geschickter Dieb lautlos und langsam über sie gekommen, dann aber richtig. Ihr fehlten die passenden Worte.
Er wählte ihre Nummer, sie meldete sich sofort. Seine Stimme. Sie klang so brüchig, dass Dora, die eifrig in ihren Computer schrieb, überrascht aufsah. Lars räusperte sich. »Könnte ich... Sie wissen schon... ich habe einige Aufzeichnungen... ich... ja, danke, ach so... erst heute Nachmittag... Termin hm..., geht in Ordnung.« Auflegen, so tun, als sei nichts Besonderes gewesen, er glaubte am ganzen Körper zu zittern, er brauchte dringend einen Kaffee, aber nicht hier, am besten im Mensacafé. Ein Blick zu Dora, die so tat, als habe sie den Anruf nicht mitbekommen. Was nicht stimmte. War ihm egal.
Er nahm sich einen Kaffee und den abgelegensten Platz, nippte und war in Gedanken, sah aus dem Fenster, ohne zu sehen was er sah. Ihre Stimme hatte seltsam geklungen, pubertär hüpfend, hektisch erwartungsvoll und schuldbewusst. Was für einen »Außentermin« konnte sie haben? Es gab keinen, er wusste es, sie besprach solche Dinge immer mit ihren
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