Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
Jahrzehnt nicht mehr gesehen. » Aber irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Seine Augen. Sie wirkten so… gierig. Und ich war allein im Haus, nur mit dir. Du warst noch ein Baby. Ich sagte, nein danke, wir kommen schon zurecht, und machte die Tür gleich wieder zu. Nicht mal auf Wiedersehen habe ich gesagt. Im Grunde genommen war das sehr unhöflich. Eigentlich wollte ich das gar nicht. Aber er hatte etwas an sich, das mir Angst machte.« Sie seufzte. » Ich bin froh, dass ich es jetzt weiß. Das mit Charlie.«
» Es ist besser, wenn man Bescheid weiß.« Es war das erste Mal seit Jahren, dass wir einer Meinung waren.
Sie leerte ihr Glas und stellte es ab. » Ich gehe jetzt schlafen.«
» Ich bin wahrscheinlich schon weg, wenn du morgen aufstehst. Ich will zeitig los.«
» Dahin, wo sie graben wollen?«
Mir schossen ein Dutzend Ausreden gleichzeitig durch den Kopf, doch ich ließ es sein. » Ja.«
» Das würde ich an deiner Stelle auch machen.«
Ich schnappte nach Luft. Ich war darauf eingestellt, ihr sämtliche Gründe aufzuzählen, weshalb ich dort sein sollte, sämtliche Argumente, weshalb es das einzig Richtige war. Sie nicht anbringen zu müssen, war ein wahrhaft absonderliches Gefühl.
Sie stand auf und kam auf mich zu. Sie zögerte einen Moment, legte dann die Arme um mich und drückte mich an sich. » Du bist eine gute Tochter, Sarah«, flüsterte sie. Dann ging sie an mir vorbei die Treppe hinauf, noch ehe ich auch nur über eine Erwiderung nachdenken konnte. Und so setzte sich die gute Tochter aufs Sofa und heulte Rotz und Wasser. Sie weinte um ihre Mutter, um ihren Vater, um Charlie und Jenny und all die anderen Opfer– länger als ich es je eingestehen werde.
2002
Seit zehn Jahren vermisst
Das Zimmer ist klein, überheizt und vollgestopft mit Leuten, die ich nicht kenne. Ich sitze mit angezogenen Knien auf dem Fußboden, und aus den Boxen dröhnen Techno-Bässe. Es ist so laut, dass der Beat in mir vibriert. In einer Ecke knutschen zwei Mädchen ungeniert herum, während ein paar Jungs sie– halb amüsiert, halb ehrfürchtig– vom Bett aus anfeuern. Ich habe eine Kaffeetasse mit Wodka Cassis in der Hand, der so klebrig wie Hustensaft ist und auch ungefähr so verlockend schmeckt.
Der Raum ist in Schummerlicht getaucht, das von einer Schreibtischlampe ausgeht, die jemand gegen die Wand gedreht hat. Ich weiß weder, wem dieses Zimmer eigentlich gehört, noch, wie die Bewohner es geschafft haben, es innerhalb von zwei Tagen mit Kissen, Postern und einem Teppich wenigstens so weit aufzuhübschen, dass es nicht mehr trist und anonym aussieht wie mein eigenes am anderen Ende des Korridors. Die Leute tanzen, lernen sich kennen und unterhalten sich brüllend. Ich überlege, was für ein Gesicht ich aufsetzen soll und entschließe mich zu einem vorsichtigen Dauerlächeln. Ich bin wie gelähmt und weiß ganz genau, dass ich nie richtig dazugehören werde. Es war ein Fehler, mich für diese Uni, diesen Studiengang, dieses Wohnheim zu entscheiden.
Ein großer, sportlicher Typ schiebt sich durch die Meute und entdeckt mich. Er studiert ein Jahr über mir; ich habe ihn am Vormittag bei einer Einführungsveranstaltung kennen gelernt. Er kommt mir wahnsinnig erwachsen und erfahren vor. Er greift nach meiner Hand und zieht mich hoch.
» Komm mit«, schreit er mir ins Ohr.
» Wohin denn?«, frage ich zurück, doch er hört es nicht. Er schiebt mich aus dem Zimmer, durch den Korridor bis zur Treppe, wo eine kleinere Gruppe versammelt ist. Die meisten von ihnen kenne ich nicht, nur ein oder zwei Leute sind aus meinem Studienjahr. Auf der Treppe ist es kühl und still. Ein Mädchen mit Nasenpiercing und abwesender Miene hat das Fenster geöffnet und raucht gegen alle Vorschrift. Halbherzig versucht sie, den Rauch mit der Hand nach draußen zu wedeln, doch das meiste davon zieht wieder herein und bildet dicke Schwaden um uns herum. Ich würde auch gern eine Zigarette nehmen, dann hätte ich wenigstens etwas zu tun.
Ich schiebe die Wodkatasse durch das Geländer auf eine freie Stufe und lasse mich an der Stelle nieder, wo mir die anderen Platz gemacht haben. Der Typ aus dem zweiten Studienjahr setzt sich neben mich und legt mir den Arm um die Schultern. Seinen Namen habe ich vergessen, und jetzt kann ich ihn unmöglich danach fragen. Er stellt mich den anderen vor. Sie reden über Leute, die ich nicht kenne, über Partys vom vorigen Jahr und Aufgaben, die für die nächste Woche anstehen. Die anderen
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