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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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Studienanfänger erzählen sich, was sie erlebt haben, und stellen Fragen. Sie kommen mir alle so ungeheuer witzig und cool vor. Wenn mich jemand etwas fragt, antworte ich nur kurz und lächle, bis mir das Gesicht wehtut. Einige von ihnen sind ziemlich angetrunken. Andere eher sturzbesoffen. Nüchtern ist außer mir niemand, und ich fühle mich gelangweilt und langweilig zugleich.
    Ich weiß nicht, wer damit angefangen hat, aber plötzlich dreht sich das Gespräch um die Familie.
    Einer der mir unbekannten Jungs dreht sich zu mir um. » Und wie sieht’s bei dir aus? Hast du vielleicht kleine Schwestern, die ich kennen sollte?«
    Alle lachen. Ich schließe daraus, dass er in dem Ruf steht, mit sämtlichen zu Besuch kommenden jüngeren Schwestern zu schlafen.
    » Weder kleine noch große Schwestern. Sorry.«
    Das Mädchen am Fenster zündet sich eine neue Zigarette an. » Und wie sieht’s mit Brüdern aus?«
    Es ist eine ganz beiläufige Frage ohne tiefere Bedeutung. Ohne viel nachzudenken, höre ich mich sagen: » Nein, Brüder auch nicht.«
    Das war’s. Mehr habe ich nicht dazu zu sagen. Niemand fragt noch einmal nach, niemand vermutet irgendwas. Es ist so einfach zu lügen, so einfach, sich als Einzelkind auszugeben, als jemand ohne Vergangenheit, als jemand, den man so nehmen und mögen kann, wie er ist. Auf einen Schlag lasse ich die letzten zehn Jahre hinter mir. In meinem Kopf klickt etwas, das ich für Freiheit halte. Erst später, viel später begreife ich es als Verlust.

17
    Lange bevor Blakes Auto vor unserem Haus hielt, war ich fertig und abfahrbereit. Ich hatte wieder einmal eine ruhelose Nacht hinter mir und war schließlich um halb fünf von einem sanften, anhaltenden Trommeln auf dem Dach aufgewacht. Als ich die Vorhänge öffnete, starrte ich wie hypnotisiert in den Regen, dessen gewaltige Wassermassen im Rinnstein wirbelten und die Straße hinunterjagten. Der Boden war schon vollgesogen, und die Rasenflächen in der Nachbarschaft sahen matschig und aufgeschwemmt aus. Ich beobachtete das Schauspiel ein Weilchen, bis mir schlagartig einfiel, dass bei solchem Wetter die Grabung möglicherweise verschoben wurde. Denn wer außer Mum und mir hatte es nach all den Jahren schon eilig damit? Ich nagte an meiner Unterlippe und war ganz sicher, dass wir nicht länger warten durften.
    Als Blakes Wagen auftauchte, war ich unendlich erleichtert. Er war überpünktlich: fünf Minuten zu früh. Beim Duschen und Anziehen war ich sehr bemüht gewesen, leise zu sein und Mum nicht zu stören. Ich hatte eine alte Jeans angezogen, die sich allerdings als viel zu groß erwies und kaum noch auf den Hüften hielt. Ein Blick in den Spiegel zeigte meinen Bauch nach innen gewölbt und meine Rippen, wie sie sich unter der schlaffen Haut spitz abzeichneten. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich in Ruhe die letzte vernünftige Mahlzeit zu mir genommen hatte. Morgens bekam ich kaum einen Bissen hinunter, denn mein Hals war schon bei dem Gedanken daran wie zugeschnürt. Wohl oder übel musste ich mir einen Gürtel suchen und ließ ihn unter einem langen T-Shirt und einer Steppjacke mit Kapuze verschwinden. Das war zwar alles andere als topmodisch, erfüllte aber seinen Zweck.
    Bevor Blake den Motor abstellen konnte, rannte ich in meinem Kapuzenchic auf das Auto zu.
    » Das Wetter passt wie die Faust aufs Auge, oder?«, begrüßte er mich und schaute missbilligend in den Fußraum. » Hast du Stiefel dabei? Die Turnschuhe halten bestimmt nicht lange.«
    » Wieso interessieren sich eigentlich alle für meine Schuhe?« Ich schwenkte einen Plastikbeutel in der Hand. » Meine Stiefel habe ich hier drin.«
    » Das, wo wir gerade hinwollen, ist zurzeit eher eine Art Sumpflandschaft. Die Böschung wird nur noch von ein paar Baumwurzeln und ein bisschen Glück zusammengehalten. Wenn es weiter so schüttet, wird uns der ganze Laden wahrscheinlich runter auf die Gleise rutschen.«
    » Du übertreibst hoffentlich«, erwiderte ich entgeistert.
    Er lachte. » Nein, wird schon gutgehen. Aber wir sind gestern schon mal kurz rausgefahren und haben uns die Gegend angeschaut, damit wir wissen, was für Gerätschaften wir brauchen. Es sah scheußlich aus. Vickers hat sich seine Schuhe total ruiniert. Und er hat doch nur zwei Paar, der arme Kerl.«
    Ich lächelte. Zum Lachen war ich viel zu nervös. In mir herrschte Gefühlschaos– Aufregung und Angst überschlugen sich, und alles war überlagert von dem Gedanken, lieber nichts zu erwarten, falls

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