Die Vernetzung der Welt: Ein Blick in unsere Zukunft (German Edition)
politische Systeme errichtet, mit denen sie die Entwicklung von zivilgesellschaftlichen Institutionen verhinderten. Diese Lücke wurde oft von religiösen Organisationen gefüllt, die sich damit oft die Feindschaft der Diktatoren zuzogen. (Die bekanntesten Gruppierungen, zum Beispiel die Muslimbruderschaft in Ägypten oder die islamistische Partei Ennahda in Tunesien wurden entweder verboten oder grausam verfolgt, weil sie eine Bedrohung für das Regime darstellten.) Während der jüngsten Aufstände wurden die Moscheen zu Versammlungsorten, viele Imame und Geistliche gaben den Protesten ihren Segen, und die religiöse Solidarität wurde für viele Menschen ein zentrales Motiv der Mobilisierung.
In anderen Regionen fehlen diese einigenden Kräfte. Afrika, Lateinamerika und Asien sind kulturell, sprachlich und wirtschaftlich zu heterogen, um dem arabischen Vorbild zu folgen. Nirgends ist die grenzübergreifende Identität so stark wie im Nahen Osten. Darüber hinaus sind in den genannten Gebieten gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Netzwerke stärker regionalisiert.
Trotzdem sind die Veränderungen, die sich auch hier abzeichnen, unübersehbar. Sie mögen stärker länderspezifisch sein und mehr Optionen zulassen als den Regimewechsel, doch auch sie werden politisch wie psychologisch große Umwälzungen bewirken. Jedes Land der Welt wird in der einen oder anderen Form revolutionäre Bewegungen erleben, doch die meisten werden diesen Sturm meistern, nicht zuletzt weil sie aus den Fehlern anderer Länder lernen können. Die Regierungen werden einen Maßnahmenkatalog entwickeln, mit denen sich die Forderungen der neu vernetzten Öffentlichkeit am besten abbiegen, zerstreuen oder befriedigen lassen. (Diese Annahme liegt nahe, da die Innenminister autoritärer Regimes in regelmäßigem Kontakt stehen und Wissen beziehungsweise Technik austauschen.) Probleme wie Einkommensunterschiede, Arbeitslosigkeit, hohe Lebensmittelpreise und polizeiliche Brutalität gibt es überall, und die Regierungen werden vorbeugend ihre Politik anpassen und stärker auf die Forderungen der Bevölkerung eingehen müssen als früher. Selbst in vergleichsweise stabilen Gesellschaften werden Politiker den Druck ihrer vernetzten Bürger zu spüren bekommen, Reformen angehen und sich auf das Digitalzeitalter einstellen müssen, denn kein Staat ist gegen diese Gefahren gefeit.
Niemand kennt diese Mischung aus politischem Druck und technologischen Herausforderungen besser als Lee Hsien Loong, Premierminister von Singapur und studierter Informatiker. «Das Internet ist geeignet, um Dampf abzulassen», sagte er im Gespräch mit uns. [249] «Aber es kann auch dazu verwendet werden, neue Feuer zu entfachen. Eine Gefahr für die Zukunft ist, dass es sehr viel einfacher ist, gegen etwas zu sein als dafür.» In aller Welt wollten junge Menschen Teil einer coolen Bewegung sein. [250] «Diese gemeinsame Erfahrung, gegen die Autorität zu kämpfen, bedeutet, dass die jungen Menschen keinen Plan mehr brauchen. Kleinere Ereignisse arten inzwischen viel zu schnell in heftigen Online-Aktivismus aus, der von Oppositionsgruppen ausgenutzt wird.»
Lee berichtete uns von einem Ereignis namens «Currygate», das Singapur vor kurzem erschütterte. [251] «Ein chinesischer Einwanderer und ein Singapurer indischer Abstammung stritten sich über das Recht, Curry zu kochen. Der Streitpunkt war, dass der Curryduft durch die Wände dringt.» Der Chinese empfand es als rücksichtslos, dass sein Nachbar dauernd Curry kochte. Um den Streit beizulegen, zogen die beiden einen Vermittler zu Rate – «was für Singapur sehr typisch ist», wie Lee erklärte. Mit dessen Hilfe einigten sie sich, dass der Inder sein Curry nur noch kochte, wenn der Nachbar verreist war. Damit war der Streit beigelegt, bis der Vermittler die Geschichte Jahre später veröffentlichte. Die indische Gemeinde in Singapur war aufgebracht darüber, dass Chinesen ihr vorschreiben sollten, wann sie ihr Curry kochen durfte. Die Situation entwickelte rasch eine Eigendynamik. «Es begann mit der Ausrufung eines nationalen Curry-Tags und wurde über Tausende Likes und Blogartikel schließlich zu einer viralen Bewegung, die das ganze Land bewegte», erinnerte sich Lee. Dabei hatte er noch Glück, dass der Curry-Krieg nicht in Straßenproteste umschlug, denn die Stimmung war extrem aufgeladen.
Die Proteste in Singapur hatten weniger mit Curry zu tun als mit der wachsenden Sorge, dass Ausländer (vor
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