Die Vernetzung der Welt: Ein Blick in unsere Zukunft (German Edition)
allem Festlandchinesen) den Einheimischen die Arbeitsplätze wegnehmen könnten. Für die Opposition, die das Thema für ihre Zwecke nutzen konnte, war das Currygate ein gefundenes Fressen. In einem Land wie Singapur, das auf seine Stabilität, Effizienz und Rechtsstaatlichkeit stolz ist, ließen die Proteste eine Schwachstelle des Systems erkennbar werden: Selbst in einem so straff kontrollierten Land haben staatliche Gesetze und gesellschaftliche Codes nur sehr bedingten Einfluss auf das Geschehen im Internet. Für Lee und die Regierung von Singapur ist der Vorfall ein erster Hinweis auf eine bevorstehende Lawine der freien Meinungsäußerung im Internet, die nicht wieder rückgängig zu machen ist. Wenn die neu vernetzte Zivilgesellschaft schon die Behörden in Singapur beunruhigt, kann man sich ungefähr vorstellen, wie nervös instabilere Regimes in anderen Teilen der Welt inzwischen sind.
Wir fragten Lee, wie China seiner Ansicht nach damit umgehen werde, dass in zehn Jahren eine Milliarde seiner Bürger vernetzt sein werden. [252] «Was in China passiert, kann niemand kontrollieren, auch nicht die Regierung», lautete seine Antwort. «Es wird China schwerfallen, diesen neuen Stimmen Rechnung zu tragen. Der Übergang zu einer Gesellschaft, in der die Mehrheit vernetzt ist, wird für die Regierung sehr schwierig werden.» Nach der Parteispitze gefragt, fügte er hinzu: «Die nächsten Generationen der chinesischen Führung werden weder das Charisma noch die kommunikative Kompetenz haben, um der Bevölkerung Impulse zu geben. In dieser Hinsicht wird die virtuelle Welt für die Chinesen viel cooler und relevanter sein als die physische.» Die Veränderung gehe nicht nur von Menschen außerhalb des Systems aus, sondern «auch von Menschen im System, den Kadern, die durch das Gerede auf der Straße beeinflusst werden und die Legitimität der Regierung anzweifeln».
Wir würden Lee und vielen anderen Experten zustimmen, dass China keiner allzu rosigen Zukunft entgegengeht. Man kann den erwarteten Rückgang des Wirtschaftswachstums, die Alterung der Bevölkerung und die technologischen Veränderungen als Hinweise deuten, dass der chinesische Staat in seiner heutigen Form nicht mehr überlebensfähig ist, während andere davon überzeugt sind, dass diese Herausforderungen letztlich eine neue Welle der Innovation und Problemlösung anstoßen werden. Doch es ist schwer vorstellbar, wie ein geschlossenes System mit 1 , 3 Milliarden Menschen, großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen, ethnischen Konflikten und einer straffen Zensur in seiner jetzigen Form den Übergang ins Digitalzeitalter überstehen soll. Je stärker die Vernetzung ist, umso größer sind die Erwartungen und Forderungen, die irgendwann auch der größte Überwachungsstaat der Welt nicht mehr im Griff hat. Sollte die Polizei zu weit gehen oder die Führung gewaltsam gegen ihre Bürger vorgehen, werden mehr Bewegungen auf den Plan treten, um das Regime zur Rechenschaft zu ziehen. Da die Minister öffentliche Bloßstellung fürchten, könnte der Druck von
weibos
und anderen Onlineforen Veränderungen bewirken und vielleicht auch irgendwann den Exzessen des Ein-Parteien-Systems Einhalt gebieten.
Das Internet wird China natürlich nicht über Nacht zu einem demokratischen Staat machen, doch die zunehmende Transparenz wird das Regime dazu zwingen, ihren Forderungen ein Stück weit entgegenzukommen. China wird in den kommenden Jahrzehnten in der einen oder anderen Form eine Revolution erleben, doch wie effektiv diese ist, hängt davon ab, inwieweit die Bevölkerung bereit ist, online und auf der Straße Risiken einzugehen.
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Künftige Revolutionen – wo und in welcher Form sie auch immer eintreten mögen – können zwar einen Regimewechsel erzwingen, doch das Ergebnis muss nicht unbedingt eine Demokratie sein. Henry Kissinger sagte uns: «Eine Revolution beginnt mit einem Gemisch von Ressentiments, die irgendwann zur Explosion kommen und die bestehende Struktur hinwegfegen. Danach herrscht entweder Chaos, oder die Staatsmacht wird wiederhergestellt, und zwar in umgekehrtem Verhältnis zu dem Grad, zu dem die frühere Staatsmacht zerstört wurde.» Mit anderen Worten: «Je gründlicher die Staatsmacht zerstört wurde, desto absoluter die nachfolgende Staatsmacht», so Kissinger. Als jemand, der vierzig Jahre lang erfolgreiche und gescheiterte Revolutionen beobachtet hat, kennt er ihren Verlauf und ihre Eigenarten. Seiner Ansicht
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