Die Vernetzung der Welt: Ein Blick in unsere Zukunft (German Edition)
Oberhand behalten, doch sie wird die andere Partei nicht zum Schweigen bringen können. Selbst wenn der Staat mit Mobilfunkantennen, Rundfunksendern und Providern die Infrastruktur kontrolliert, hat er kein Informationsmonopol. Solange jeder Nutzer mit seinem Smartphone Inhalte produzieren, ins Internet laden und verbreiten kann, kann ein Regime nicht alle Kanäle beherrschen. Ein wackliges, mit einer Handykamera aufgenommenes Video reichte schon aus, um die iranische Opposition aufzurütteln und die Proteste gegen die Wahl des Jahres 2009 anzuheizen. Es handelte sich um das sogenannte Neda-Video. Neda Agha-Soltan war eine junge Frau aus Teheran, die während einer Demonstration ihr Auto in einer ruhigen Nebenstraße abstellte; als sie aus dem Wagen ausstieg, wurde sie von einem Scharfschützen der Regierung von einem nahegelegenen Dach aus erschossen. [308] Zufälligerweise filmte jemand den Vorfall mit einer Handykamera. Während Passanten versuchten, die junge Frau wiederzubeleben, filmten auch andere die Szene mit ihren Handykameras. Die Videos wurden vor allem über die P 2 P-Plattform Bluetooth weitergegeben, da das Regime vor den Protesten den Mobilfunk blockiert hatte. [309] Die Videos fanden den Weg ins Internet und verbreiteten sich mit rasanter Geschwindigkeit. Die Demonstranten im Iran fanden in aller Welt neue Sympathisanten, die Gerechtigkeit für Neda verlangten. Sehr zum Leidwesen des Regimes lenkte das Ereignis die weltweite Aufmerksamkeit auf eine Protestbewegung, die es am liebsten ganz vertuscht hätte.
Selbst in den repressivsten Gesellschaften, deren Regime mit Spionagesoftware und virtuellen Schikanen gegen ihre Bevölkerung vorgehen und Handys manipulieren, werden Menschen mit der nötigen Entschlossenheit andere Möglichkeiten finden, ihre Botschaften zu verbreiten. Dazu könnten sie zum Beispiel SIM -Karten weitergeben, Ringschaltungen aufbauen (eine Art schnurloses Kollektiv, in dem jedes Gerät zum Router wird und die Daten nicht über eine zentrale Schaltstelle, sondern über viele Knoten weitergegeben werden) oder «unsichtbare» Telefone verwenden, die keine Kommunikation aufzeichnen (weil sie zum Beispiel über Internettelefonie funktionieren) und die anonyme Nutzung des Internets ermöglichen. Staatliche Bemühungen, die Verbreitung einer gefragten Technologie zu unterbinden, sind früher oder später zum Scheitern verurteilt. (Das trifft auch auf Versuche zu, unliebsame Minderheiten aus dem Internet zu verdrängen.) Schon lange vor dem Neda-Video versuchte die iranische Regierung, den Verkauf von Satellitenschüsseln zu verbieten. Die Iraner reagierten, indem sie sich mehr Satellitenantennen aufs Dach setzten. Mittlerweile gehört der iranische Schwarzmarkt für Satellitenfernsehen gemessen an der Bevölkerung zu den größten der Welt, und selbst Angehörige des Regimes profitieren davon.
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Am Beispiel des ruandischen Völkermords des Jahres 1994 , einem Konflikt aus dem vordigitalen Zeitalter, bei dem rund 800 000 Menschen ums Leben kamen, lässt sich erkennen, wie wichtig ein Kräftegleichgewicht im Marketingkrieg ist. Damals besaßen zwar die Hutus, Tutsis und Twa Radiogeräte, doch die Sender wurden von den Hutus kontrolliert. Die Tutsis hatten keine Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen, und waren machtlos gegen die zunehmende Hasspropaganda im Radio. Als die Tutsis, die Minderheit, versuchten, einen eigenen Sender aufzubauen, machten die von den Hutus dominierten Behörden die Station ausfindig, schlossen sie und verhafteten die Betreiber. [310] Hätten die Tutsis vor den Ereignissen von 1994 die leistungsstarken mobilen Geräte von heute zur Verfügung gehabt, hätten sie den öffentlichen Diskurs in Ruanda möglicherweise beeinflussen können. Vielleicht wären einige der Hutus der Propaganda nicht erlegen und wären nicht mit Waffen gegen ihre Nachbarn vorgegangen. Die Tutsis wären in der Lage gewesen, ohne staatliche Genehmigung von ihren mobilen Geräten aus eigene Inhalte zu verbreiten. Während des Völkermords gaben Radiostationen der Hutus die Namen und Adressen von Versteckten bekannt [311] – wir können nur ahnen, wie sich die Ereignisse entwickelt hätten, wenn die Tutsis alternative Kommunikationsmittel zur Verfügung gehabt hätten.
Dieses neue Kräftegleichgewicht hat zwar eindeutige Vorteile, doch lässt sich noch nicht absehen, wie sich die Aufhebung der bisherigen Zugangsbeschränkungen langfristig auswirken wird. Die Desinformation wird
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