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Die Verraeterin

Die Verraeterin

Titel: Die Verraeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. T. Geissinger
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fragte sich, ob er wohl noch in zwanzig Jahren am Leben sein würde, um sich dieses Tages zu entsinnen. Im Grunde hoffte er, dass er es nicht sein würde.
    »Es ist meine Schuld«, sagte er bedrückt und hatte das Gefühl, in Selbsthass zu ertrinken.
    »Er war ein großer Junge, Xander«, erwiderte Bartleby ernst. »Er hat seine eigenen Entscheidungen gefällt. Du hättest absolut nichts tun können, um ihn davon abzuhalten, auf diese Weise zu kämpfen …«
    »Er hätte gar nicht erst in diese Bar gehen sollen«, meinte Xander und fuhr sich mit einer Hand durch seine verschwitzten Haare. »Ich hätte es ihm niemals erlaubt.«
    »Bist du denn seine Mutter?« Die Stimme des Arztes klang ein wenig tadelnd.
    »Meinetwegen sind sie überhaupt erst losgezogen!«, explodierte Xander. In einer fließenden Bewegung sprang er auf. Adrenalin rauschte durch seine Venen, als endlich der Zorn in ihm ausbrach, den er die ganze Nacht über unterdrückt hatte. Mit geballten Fäusten und dem überwältigenden Bedürfnis, irgendjemanden blutig zu schlagen, starrte er auf Bartleby herab. »Wir haben uns gestritten! Ich habe sie aus dem Haus gejagt! Ich und mein dämlicher, blöder …«
    »Stopp!«, fuhr ihn Bartleby an und sprang überraschend beweglich auf die Füße. Er stellte sich vor Xander auf und sah diesen mit seinen blitzenden blauen Augen an. »Hör auf, dir für alles Schlechte, das passiert, die Schuld zu geben! Es war nicht deine Schuld! Du kannst nicht alles kontrollieren, Xander. Und Julian war da keine Ausnahme! Darf ich dich außerdem daran erinnern, dass die drei wegmussten ? Das scheinst du vergessen zu haben. Sie sind nicht weggegangen, weil du dich mit ihnen gestritten hast!«
    Xander zuckte zusammen. Stimmt. Der Arzt hatte recht. Julian, Mateo und Tomás mussten das Haus verlassen, weil es da eine Frau gab, bei der das Fieber ausgebrochen war. Und er hätte mit ihnen gehen müssen. Er hatte sich geweigert, Morgan allein zu lassen, weil er etwas von ihr gewollt hatte, weil sie ihm dieses Gefühl gab, der Mann sein zu können, der er so gerne gewesen wäre – ein glücklicherer Mann, ein besserer Mann. Allein durch ihre Gegenwart, durch ihr Lächeln, ihren Duft und diese dunklen, betörenden Augen war ihr das gelungen.
    Er hatte sich für Morgan entschieden, und deshalb war Julian jetzt tot.
    Bartlebys Augen wurden zu schmalen Schlitzen, als er Xander musterte. »Was auch immer du jetzt denkst – ich garantiere dir, dass es falsch ist.«
    »Ich denke gerade, was für ein toller Typ du doch bist«, erwiderte Xander durch zusammengebissene Zähne.
    Erstaunlicherweise brachte das Bartleby zum Lächeln. »Zumindest hast du deinen wunderbaren Sinn für Humor nicht verloren.«
    Xander knurrte und wandte den Blick ab. Die Morgensonne stach ihm in die Augen, und für einen Moment schloss er sie. Doch sogleich stiegen viel zu viele Bilder in ihm auf, wie Geister, die ihn in seinem Elend quälten.
    Er sah sich selbst, wie er Julian halbot im OP -Saal des Versuchslabors gefunden hatte. Julian hatte nach den ganzen chemischen Substanzen gestunken, mit denen man ihn bearbeitet hatte. Kurz darauf waren sie in dem gestohlenen SUV nach Hause zurückgerast, wo sie verzweifelt versuchten, ihn selbst dann noch ins Leben zurückzuholen, als es bereits sonnenklar gewesen war, dass er tot war. Schließlich hatte Bartleby ein Leinentuch über den Körper seines großen Freundes gezogen und sich dann zu Mateo und Tomás in die rasch improvisierte Krankenstation begeben, die er im Fitnessraum errichtet hatte. Xander war unter Schock aus dem Zimmer gestolpert und hatte sich auf die Suche nach Morgan gemacht. Er musste feststellen, dass sie aus dem Raum ausgezogen war, den sie miteinander geteilt hatten, samt all ihrer Kleider und sonstigen Habseligkeiten. Das Zimmer war so steril und sauber, als ob sie niemals zusammen dort gewesen wären. Dann hatte er vor dem Raum gestanden, in den sie gezogen war, und hatte ihren Duft hinter der abgesperrten Tür gerochen.
    Abgesperrt. Sie hatte die Tür wieder vor ihm abgesperrt.
    Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, dennoch einzudringen, aber er wusste, was sie ihm damit signalisieren wollte. Das Fieber war vorbei. Das, was sie miteinander verbunden hatte, war vorbei. In seiner Qual und seinem Selbsthass riss diese Erkenntnis ein Loch in ihn, das groß genug war, um mit einem Lastwagen hindurchzufahren. Alles Schöne in seinem Leben kam unweigerlich zu einem Ende. Und je wunderbarer das Schöne gewesen

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